Mysteriöse Malerei: Südafrikanische Felskunst aus dem 19. Jahrhundert zeigt ein ungewöhnliches Wesen mit nach unten gerichteten Stoßzähnen, das keinem damals in der Region lebenden Tier ähnelt. Ein Forscher geht deshalb nun davon aus, dass es sich stattdessen um das Abbild einer längst ausgestorbenen Spezies handeln muss – zum Beispiel um einen pflanzenfressenden Säugetier-Vorfahren aus der Zeit vor 260 Millionen Jahren. Aber woher könnten die Felskünstler von diesem Urzeitwesen gewusst haben?
Kunst und Malerei gehören schon seit mindestens 51.000 Jahren zum kulturellen Repertoire des Menschen. Seit jeher malen wir dabei, was gerade um uns herum passiert und was uns bewegt. An Höhlenwänden verewigt sind somit zum Beispiel Tierbilder und Jagdszenen, aber auch Vulkanausbrüche. Auch die Mythen und Erzählungen eines Volkes können in die Felskunst Einzug halten. So sind von den südafrikanischen San zum Beispiel vermehrt Darstellungen sogenannter Regentiere aus dem Geisterreich ihrer religiösen Vorstellungen bekannt.
Ein unmögliches Walross
Doch nicht immer ist auch auf den ersten Blick ersichtlich, was genau ein Felswand-Gemälde eigentlich darstellen soll. Vor große Rätsel stellt Archäologen zum Beispiel ein ungewöhnliches Tierbild im südafrikanischen „Horned Serpent Panel“ – einem zehn Meter langen Wandgemälde in La Belle France im Nordosten des Landes. Es wurde wahrscheinlich zwischen 1821 und 1835 vom indigenen Volk der San gemalt.
Eines der dargestellten Wesen sieht aus wie ein Walross mit langgestrecktem Körper, kleinen Beinchen und riesigen, nach unten gerichteten Stoßzähnen. Doch während der gesamten Erdgeschichte haben an den afrikanischen Küsten südlich der Sahara noch nie Walrosse gelebt. Und auch sonst ähnelt das Wesen keinem modernen Tier der Region. Was also soll es darstellen?
Ist es eine Sagengestalt?
Handelt es sich vielleicht einfach um eine Sagengestalt? Um ein weiteres Regentier der San-Mythen? „Kreaturen mit Hauern sind in der Felskunst der San nicht selten, darunter Löwen mit Hauern, Schlangen, Antilopen und Menschen“, erklärt Julien Benoit von der University of the Witwatersrand in Johannesburg. „Aber in diesen Fällen sind die Hauer immer nach oben gebogen wie bei Warzenschweinen und Buschschweinen und nicht nach unten wie bei dem Hauertier aus La Belle France.“
Und da selbst die fantastischsten Elemente der San-Kunst stets auf realen Tieren und Phänomen beruhen, muss auch das walrossähnliche Wesen ein reales Vorbild besessen haben. Es einfach als Fantasietier abzutun, reicht laut Benoit also nicht aus.
Fossilien als Inspiration
Benoit geht davon aus, dass die San ihre Inspiration für die Zeichnung durchaus aus ihrem Lebensraum bezogen haben, allerdings nicht von lebenden, sondern von lange ausgestorbenen Tieren. Denn der Kopf des Fels-Walrosses hat erstaunlich viele Ähnlichkeiten mit Vertretern der Dicynodontia. Diese pflanzenfressenden Säugetier-Vorfahren lebten vor 260 Millionen Jahren im heutigen Südafrika und zeichneten sich genauso wie das abgebildete Tier durch nach unten gerichtete Hauer aus.
Und es gibt noch eine weitere Übereinstimmung: „Die Haut des Stoßzahntieres ist gepunktet, was in der San-Felskunst nicht ungewöhnlich ist, aber auch mit der warzigen mumifizierten Haut übereinstimmt, die bei einigen Dicynodontia-Fossilien in der Gegend erhalten ist“, berichtet Benoit. Lediglich die kurzen Beinchen des Felsentieres sind untypisch für Dicynodontia. Diese Diskrepanz führt der Forscher allerdings darauf zurück, dass die Gliedmaßen der fossilen Urzeittiere oft tiefer vergraben liegen als der Rest ihres Körpers und daher wahrscheinlich nicht von den San gefunden wurden.
San kannten sie lange vor dem Westen
Dass die San damals schon Fossilien kannten, gilt als gesichert. „Archäologische Beweise belegen, dass die San Fossilien fanden und über weite Entfernungen transportierten und dass sie sie überraschend genau deuten konnten“, erklärt Benoit. Das gilt höchstwahrscheinlich auch für die fossilen Überreste von Dicynodontia-Vertretern wie Lystrosaurus, Daptocephalus und dem stiergroßen Kannemeyeria, die in der Region um das Felsgemälde in großer Zahl vorkommen und aufgrund von Erosion teilweise einfach aus dem Boden herausragen.
Wahrscheinlich flossen diese Knochenfunde auch in die mythologische Welt des indigenen Volkes ein. Denn die San gehen davon aus, dass zu Zeiten ihrer Vorfahren monströse, heute ausgestorbene Tiere lebten, die selbst Elefanten und Nilpferde größenmäßig übertrafen. „Wenn die San in der Lage waren, die versteinerten Schädel der Dicynodontia als von einst lebenden Tieren zu identifizieren, ist es möglich, dass ihre Stoßzahngesichter zu ihrer Felskunst beigetragen haben könnten“, schlussfolgert Benoit.
Er geht daher davon aus, dass die San in La Belle France tatsächlich ihre Interpretation eines Dicynodontia-Vertreters hinterlassen haben. Und das lange, bevor die westliche Wissenschaftswelt überhaupt von der Existenz der Urzeittiere wusste, denn „offiziell“ entdeckt und benannt wurden die Dicynodontia erst im Jahr 1845 – mindestens zehn Jahre nach der Entstehung des Felsgemäldes von La Belle France. (PLoS ONE, 2024; doi: 10.1371/journal.pone.0309908)
Quelle: PLOS, PLoS ONE