Archäologie

Frühe Bibelfassung entdeckt

1.750 Jahre altes Fragment ist eines der frühesten Zeugnisse eines Evangelien-Textes

Manuskript
Dieses Manuskript aus dem Katharinenkloster im Sinai enthält verborgen unter dem griechischen Text eine 1.750 Jahre alte altsyrische Fassung des Matthäus-Evangeliums. © Vatican Library

Verborgener Text: Eine der ältesten bekannten Fassungen eines biblischen Evangeliums lag jahrhundertelang unerkannt in der Bibliothek des Vatikans. Erst jetzt hat ein Forscher dieses 1.750 Jahre alte Fragment aus dem Neuen Testament wiederentdeckt – das Pergament war ausradiert und mit einem neueren Text überschrieben worden. Der in Altsyrisch verfasste Text wurde mindestens ein Jahrhundert vor den ältesten erhaltenen griechischen Bibelabschriften wie dem Codex Sinaiticus verfasst.

Viele frühe Schriften wurde auf Pergament niedergeschrieben – papierartigen Bögen aus bearbeiteter Tierhaut. Weil dieses Material aufwendig herzustellen und rar war, wurde oft mehrfach benutzt: Man schabte die alte Schrift ab und überschrieb sie. Mit bloßem Auge sind die ausradierten Texte solcher Palimpseste meist nicht mehr erkennbar. Sie können daher Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende unentdeckt bleiben.

Palimpsest
Im UV-Licht werden die blassen, quer zum griechischen Text laufenden altsyrischen Zeichen sichtbar.
© Vatican Library

Ein Palimpsest aus dem Katharinenkloster

Genau das war auch bei dem jetzt in der Bibliothek des Vatikans entdeckten Palimpsest der Fall. Aufgespürt hat es der Mediävist Grigory Kessel von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, als er ein ursprünglich aus dem Katharinenkloster auf dem Sinai stammendes Manuskript untersuchte. Dabei handelt es sich um eine Sammlung auf griechisch verfasster liturgischer Hymnen, die vor rund 1.300 Jahren von einem Mönch des Klosters niedergeschrieben worden waren.

Schon länger war bekannt, das es sich bei diesem Manuskript um ein Palimpsest handelt: „Dieses Manuskript wurde auf Pergament geschrieben, das ursprünglich aus mehreren nicht zusammengehörenden und in verschiedenen Sprachen verfassten Manuskripten stammte“, erklärt Kessel. Im Jahr 2020 wurde dieses Palimpsest digitalisiert, dabei wurden von den Pergamentseiten auch Aufnahmen im UV-Licht erstellt.

Altsyrische Fassung des Matthäus-Evangeliums

Bei der Analyse dieser Aufnahmen hat Kessel nun entdeckt, dass einige Seiten des Manuskripts ältere, in altsyrisch verfasste Textzeilen enthalten. Sie sind bereits 1.750 Jahre alt und damit gut 400 Jahre älter als sie überlagernde griechische Hymnentext. Der altsyrischen Schriftzeilen laufen senkrecht zum späteren Text. Wie Kessel erklärt, wurden die ursprünglichen Pergamentseiten später gedreht, in der Mitte gefaltet und dann neu gebunden.

Die Entzifferung des altsyrischen Textes enthüllte Überraschendes: Es handelt sich um einen Abschnitt aus dem Matthäus-Evangelium – einen Bibeltext aus dem Neuen Testament. „Die Tradition des syrischen Christentums kennt mehrere Übersetzungen des Alten und Neuen Testaments“, erklärt Kessel. „Bis vor kurzem waren nur zwei Handschriften bekannt, die die altsyrische Übersetzung der Evangelien enthalten.“ Erst 2016 wurde dann das Fragment einer dritten Handschrift identifiziert.

Wichtiges Puzzleteil in der Geschichte der Bibel

Das jetzt von Kessel entdeckte Textfragment ist das einzige bekannte Überbleibsel einer vierten altsyrischen Evangeliums-Fassung. Damit ist es ein wichtiges Puzzleteil in der Geschichte der Bibel und einer der ältesten Textzeugen der Evangelien. Das Textfragment und generell die altsyrischen Evangelien wurden mindestens ein Jahrhundert vor den ältesten erhaltenen griechischen Handschriften verfasst, darunter dem bedeutenden Codex Sinaiticus. Der Fund eröffnet damit einen einzigartigen Zugang zur sehr frühen Phase in der Geschichte der textuellen Überlieferung der Evangelien.

„Grigory Kessel ist aufgrund seiner profunden Kenntnis der alten syrischen Texte und Schriftcharakteristika ein großer Fund gelungen“, sagt Claudia Rapp, Direktorin des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. “ Diese Entdeckung beweist zudem, wie produktiv und wie wichtig das Zusammenspiel modernster digitaler Techniken in der Grundlagenforschung bei der Begegnung mit den mittelalterlichen Handschriften sein kann.“

Die Studie von Grigory Kessel fand im Rahmen des Sinai Palimpsests Project statt. Dieses hat zum Ziel, die jahrhundertealten wertvollen Palimpsest-Handschriften des Katharinenklosters in Ägypten wieder lesbar und in digitaler Form verfügbar zu machen. Bisher konnten bereits 74 Handschriften entziffert werden. (New Testament Studies, 2023; doi: 10.1017/S0028688522000182)

Quelle: Österreichische Akademie der Wissenschaften

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