Archäologie

Herculaneum-Schriftrolle enthüllt unbekanntes Werk

Erste Passagen von 2.000 Jahren altem Text auf verkohltem Papyrus entziffert

Der Text
Dieser Text auf einer Schriftrolle aus Herculaneum war fast 2.000 Jahre unlesbar – jetzt hat ein Team die ersten Passagen lesbar gemacht. © Vesuvius Challenge

Antiker Schatz: Ein Team von Freiwilligen hat die ersten Passagen einer beim Vesuv-Ausbruch in Herculaneum verkohlten Schriftrolle lesbar gemacht – und einen zuvor unbekannten antiken Text enthüllt. In diesem philosophiert der Autor unter anderem über das Wesen des Genusses. Die Entzifferung des verkohlten, nicht entrollbaren Papyrus gelang mithilfe von speziellen Scanmethoden und künstlicher Intelligenz. Die drei Studenten des Teams erhalten nun dafür den „Grand Prize“ der Vesuvius Challenge.

Beim Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 wurden nicht nur Pompeji und Herculaneum unter Asche und Lava begraben – auch eine ganze Bibliothek mit mehr als tausend Schriftrollen wurde verschüttet und verkohlt. Nur wenige dieser Papyri aus der Bibliothek des Philodemus konnten seither entziffert werden. Der größte Teil ist so stark verkohlt und fragil, dass es weder entrollt noch durch gängige Röntgenverfahren lesbar gemacht werden kann.

SChriftrolle
So sieht die jetzt in Teilen entzifferte, verkohlte Schriftrolle aus Herculaneum aus. Erst Spezialscans und KI-Systeme machten den Text auf ihr lesbar.© Vesuvius Challenge

An diesem Punkt setzt die Vesuvius Challenge ein, ein internationales Gemeinschaftsprojekt und offener Wettbewerb um die Entzifferung von ungeöffneten, aber bereits gescannten Schriftrollen aus Herculaneum. Bereits im Oktober 2023 war es dem US-Studenten Luke Farritor gelungen, das erste Wort einer dieser Schriftrollen zu entziffern. Dafür hatte er ein spezielles KI-Modell entwickelt und trainiert.

Durchbruch gelang Team aus drei Studenten

Seither hat sich Farritor mit zweien seiner Mitstreiter zusammengetan, die ebenfalls wichtige Fortschritte erzielt haben: Der Biorobotik-Student Youssef Nader von der Technischen Universität Berlin entwickelte parallel ein anderes KI-Modell, mit dem er ebenfalls erste Wörter entziffern konnte. Der Robotikstudent Julian Schilliger von der ETH Zürich optimierte eine Methode für den 3D-Scan des Papyrus. Zusammen gelang es ihnen nun, erstmals vier Abschnitte der Schriftrolle mit jeweils 140 Buchstaben lesbar zu machen.

„Von diesen Passagen sind 85 Prozent der Buchstaben entzifferbar – das war mehr als erwartet“, heißt es in der Mitteilung der Vesuvius Challenge. „Die meisten von uns im Organisationsteam gaben diesem Kriterium eine weniger als 30-prozentige Erfolgschance.“ Zusätzlich entzifferte das Team weitere elf Spalten Text mit insgesamt 2.000 Zeichen. Damit sind nun erstmals rund fünf Prozent der ersten Schriftrolle lesbar – genug, um dem Dreierteam den „Grand Prize“ der Vesuvius Challenge zu verleihen.

Ein zuvor unbekannter philosophischer Text

Doch das ist nicht alles: Direkt nach der Entzifferung der ersten Passagen haben die an der Vesuvius Challenge beteiligten Papyrologen eine erste Übersetzung des Textes erstellt – mit spannendem Ergebnis. „Wir wissen nun, dass diese Schriftrolle keine bloße Kopie eines schon existierenden Werks ist. Sie enthält einen nie zuvor gesehenen antiken Text“, teilt die Vesuvius Challenge mit. Demnach handelt es sich um Teile eines philosophischen Werks, in dem der Autor über Genuss und Freude sinniert.

So stellt der antike Autor – vermutlich der Philosoph Philodemus – die Frage, ob Dinge, die schwer zu erlangen sind, mehr Freude bereiten als solche, die leicht und reichlich zur Verfügung stehen. Der antike Philosoph kommt zu dem Schluss: „Ähnlich wie im Fall von Nahrung glauben wir nicht, dass seltene Dinge per se mehr Genuss bereiten…“ In einem weiteren Abschnitt der Schriftrolle taucht eine Person namens Xenophantus auf – möglicherweise handelt es sich um einen antiken Musiker, den Philodemus auch in seinem Werk „Über Musik“ erwähnt.

Am Ende der bisher entzifferten Textpassagen kritisiert der Autor noch einige seiner Zeitgenossen, „die nichts über Freude zu sagen vermögen, weder im Allgemeinen noch im Speziellen, wenn es um eine Definition geht.“ Die Forscher gehen davon aus, dass Philodemus hier die Stoiker kritisiert, eine philosophische Richtung, die sich in ihren Ansichten über Genuss und Lebensfreude deutlich von den Ansichten der Epikuräer und damit auch Philodemus unterschied.

Die Challenge geht weiter

„Wir erwarten, dass es in unserer Sammlung noch viele weitere Texte von Philodemus geben wird“, heißt es in der Mitteilung der Vesuvius Challenge. „Aber es könnten auch andere Texte darunter sein – ein Dialog des Aristoteles, eine verlorene Geschichte von Homer oder ein Gedicht von Sappho. Wer weiß, welche Schätze noch in diesen verkohltem Klumpen verborgen sind!“ Auch Farrotir denkt nicht daran, aufzuhören: „Wir feiern jetzt, aber es gibt keinen Grund, unsere Anstrengungen zu verlangsamen. Lasst uns die ganze Bibliothek entziffern!“

Das nächste Ziel des Projekts ist es nun erst einmal, alle vier bisher gescannten Schriftrollen zu 90 Prozent zu entziffern. Die große Herausforderung dabei wird es sein, die Textteile in den innersten Windungen der Schriftrollen lesbar zu machen. Denn die Scans dieser Schichten sind am undeutlichsten. Auch hier hofft das Projekt auf Fortschritte in den KI-Systemen.

Quelle: Vesuvius Challenge

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