Gründe dafür waren zum einen sein Alter und sein Fundort: Obwohl die genaue Datierung des Fossils nach wie vor unklar ist, könnte es Analysen zufolge zwischen 45.000 und 66.000 Jahren alt sein. Doch bisherigen Erkenntnissen zufolge lebten in dieser Zeit in der Fundregion in Spanien und allgemein in Europa noch keine Vertreter des anatomisch modernen Menschen, sondern nur Neandertaler. Überdies fehlt dem Fossil ein Merkmal, das als kennzeichnend für den Homo sapiens gilt: ein ausgeprägtes Kinn.
Neuanalyse mit überraschendem Ergebnis
Mit Hilfe von CT-Scans des Originalfossils haben Keeling und seine Kollegen nun erstmals ein hochauflösendes virtuelles 3D-Modell des Kiefers erstellt. Anschließend analysierten sie am Computer die geometrisch-anatomischen Merkmale der Knochen und verglichen diese mit bekannten Exemplaren von Neandertalern sowie fossilen und heutigen Kiefern von Homo sapiens. „Unsere Ergebnisse waren überraschend: Banyoles wies keine eindeutigen Neandertaler-Merkmale auf und überschnitt sich in seiner Gesamtform nicht mit den Neandertalern“, berichtet Keeling.
Stattdessen scheint das Fossil aus Banyoles der Analyse zufolge sowohl in seiner Gesamtform als auch in der Ausprägung einzelner Merkmale besser zu Homo sapiens zu passen. Gleichzeitig überschneiden sich manche Merkmale allerdings mit anderen menschlichen Spezies und auch das fehlende Kinn passt nicht ins Bild.
„Wir wurden mit Ergebnissen konfrontiert, die uns sagten, dass Banyoles kein Neandertaler ist, aber die Tatsache, dass es kein Kinn hat, ließ uns zweimal darüber nachdenken, es dem Homo sapiens zuzuordnen“, erzählt Keelings Kollege Rolf Quam. „Das Vorhandensein eines Kinns gilt seit langem als Merkmal unserer eigenen Spezies.“
Das Rätsel des Kinns
Um mehr Klarheit zu gewinnen, verglichen die Forschenden das Fossil aus Banyoles unter anderem mit dem Kiefer aus der Pestera cu Oase in Rumänien. Der rumänische Kiefer hat ein vergleichsweise ausgeprägteres Kinn, kombiniert mit einigen Neandertaler-Merkmalen – wie für den Nachfahren einer Neandertaler-Homo-sapiens-Kreuzung zu erwarten. Da der Kiefer aus Banyoles allerdings keinerlei Neandertaler-Merkmale aufweist, schließen Keeling und seine Kollegen aus, dass auch bei diesem ein Neandertaler-Vorfahr die Homo-sapiens-untypischen Aspekte erklären könnte.
Stattdessen ziehen sie zwei Möglichkeiten in Erwägung: Entweder, es handelte sich um eine Kreuzung aus Homo sapiens und einer anderen, nicht identifizierten Frühmenschenart. Oder das Individuum war Mitglied einer bisher unbekannten, sehr frühen Population von Homo sapiens, die mit den Neandertalern in Europa koexistierte.
Von welcher Menschenart stammt der Hominiden-Kiefer von Banyoles?© Binghamton University
Frühester Homo sapiens Europas?
Angesichts der Tatsache, dass es in Europa zu dieser Zeit nach heutigem Wissensstand keine weiteren Frühmenschenarten gab, halten Keeling und sein Team die zweite Hypothese für wahrscheinlicher. Dafür spricht auch, dass sehr frühe afrikanische Vertreter unserer Spezies ebenfalls nur ein rudimentäres Kinn aufweisen. Dieses Merkmal schließt demnach eine Zugehörigkeit zum Homo sapiens nicht grundsätzlich aus.
„Wenn es sich bei Banyoles wirklich um ein Mitglied unserer Spezies handelt, wäre dieser prähistorische Mensch der früheste jemals in Europa dokumentierte Homo sapiens“, sagt Keeling. Doch unabhängig davon, zu welcher Spezies das Banyoles-Fossil tatsächlich gehört, zeigt die Studie eindeutig: „Es handelt sich bei Banyoles definitiv nicht um einen Neandertaler.“
Die Autoren schlagen daher vor, in weiteren Studien die taxonomische Einordnung des Fossils mit zusätzlichen Methoden zu untersuchen: „Die gegenwärtige Situation macht Banyoles zu einem erstklassigen Kandidaten für alte DNA- oder Proteom-Analysen, die zusätzliches Licht auf seine taxonomische Zugehörigkeit werfen könnten.“ (Journal of Human Evolution, 2022, doi: 10.1016/j.jhevol.2022.103291)
Quelle: Binghamton University
9. Dezember 2022
- Elena Bernard