Archäologie

Kannibalismus in der Bronzezeit aufgedeckt

37 Männer, Frauen und Kinder wurden vor 4.000 Jahren kampflos abgeschlachtet und verzehrt

Knochen mit Schnittspuren
Schnittspuren am Schädel und einem Beinknochen von Toten der Bronzezeit-Fundstätte Charterhouse Warren. © Schulting et al./ Antiquity, CC-by 4.0

Grausiges Gemetzel: Im Südwesten Englands haben Archäologen die Überreste eines bronzezeitlichen Massakers samt Kannibalismus identifiziert. 37 Männer, Frauen und Kinder wurden dort vor gut 4.000 Jahren abgeschlachtet und teilweise verzehrt, wie Schnitt- und Schlagspuren an den Knochen verraten. Wer die Täter waren und warum sie einen solchen Gewaltexzess veranstalteten, ist unbekannt. Die Archäologen vermuten in diesem kannibalistischen Massaker aber einen Racheakt.

Mord und Totschlag gibt es schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte – davon zeugen Relikte gewaltsam getöteter Neandertaler oder die Gletschermumie Ötzi. Aber auch Kriege, Massen-Hinrichtungen oder Massaker an ganzen Dorfgemeinschaften gab es schon vor Jahrtausenden, wie Massengräber gewaltsam Getöteter in Kenia, in Deutschland oder in Kroatien belegen.

Lage von Charterhouse Warren
Lage der bronzezeitlichen Fundstätte Charterhouse Warren im Südwesten Englands. © Schulting et al./ Antiquity, CC-by 4.0

Massaker im bronzezeitlichen England

Doch eine Fundstätte in Südengland sticht in besonderer Weise heraus: In Charterhouse Warren in Somerset wurden schon in den 1970er Jahren mehr als 300 menschliche Knochen in einem 15 Meter tiefen Schacht entdeckt. „Mindestens 37 Männer, Frauen und Kinder wurden dort umgebracht und ihre zerteilten Überreste in den Schacht geworfen“, berichten Rick Schulting von der University of Oxford und seine Kollegen. Datierungen zufolge stammen die Gebeine aus der frühen Bronzezeit um 2200 bis 2050 vor Christus.

Das Ungewöhnliche daran: Zu dieser Zeit wurden Tote in Großbritannien typischerweise verbrannt, die große Zahl der Gebeine ist daher schon deshalb auffällig. Hinzu kommt jedoch, dass die Knochen aus Charterhouse Warren deutliche Spuren von Gewalt zeigen: Viele Schädel sind eingeschlagen, andere Knochen weisen Brüche, Schlag- und Schnittspuren auf. „Die Schädelverletzungen und das Fehlen von Pfeilspitzen legt nahe, dass sie nicht auf einen bewaffneten Konflikt zwischen zwei Gruppen zurückgingen“, erklären die Archäologen.

Schädelverletzungen
Diese Schädelverletzungen deuten auf stumpfe Gewalteinwirkung hin. © Schulting et al./ Antiquity, CC-by 4.0

Abgeschlachtet und ausgeweidet

Wie aber kamen diese Menschen dann zu Tode? Um das herauszufinden, haben Schulting und sein Team die Knochen aus Charterhouse Warren noch einmal im Detail analysiert. Dabei stellten sie fest, dass die Toten offenbar ohne große Gegenwehr gestorben waren. „Diese Opfer waren entweder bereits Gefangene oder sie wurden überrascht“, so das Team. Das lege die Verteilung der Verletzungen am Körper nahe.

Viele Gebeine zeigten zudem Schnitt- und Schlagspuren, die sonst bei Knochen geschlachteter Tiere vorkommen: „Die Schnitte an den Schäften der Langknochen und Rippen deuten auf ein Entfleischen und Ausweiden hin“, berichten die Archäologen. An mehreren Langknochen waren die Enden abgeschlagen. „Solche Spuren sind charakteristisch für das Entfernen des fett- und bluthaltigen Knochenmarks“, erklärt das Team. Einige Rippen der Toten zeigen auch Brüche, wie sie beim gewaltsamen Öffnen des Brustkorbs entstehen.

Klare Indizien für Kannibalismus

Das bedeutet: „Diese Männer, Frauen und Kinder wurden aus nächster Nähe durch stumpfe Gewaltanwendung getötet und dann systematisch zerteilt und entbeint“, berichten Schulting und seine Kollegen. „Die Knochen wurden dabei auf eine Weise zerbrochen, die man nur als Schlachten bezeichnen kann.“ Kauspuren an Knochenenden legen nahe, dass die sterblichen Überreste dieser Menschen von ihren Mördern verzehrt worden sind.

Demnach waren die Toten von Charterhouse Waren Opfer von Kannibalismus. Ihr Fleisch, ihr Knochenmark und möglicherweise auch ihre Innereien wurden von ihren eigenen Artgenossen gegessen. „Das zeichnet ein weit dunkleres Bild dieser Epoche als viele von uns erwartet hatten“, sagt Schulting.

Kieferknochen mit Schnittspuren
Schnittspuren am Kiefer eines Kindes aus Charterhouse Warren. Sie sind typisch für die Abtrennung des Kaumuskels und Unterkiefers. © Schulting et al./ Antiquity, CC-by 4.0

Was war das Motiv dahinter?

Doch was war der Grund für diesen bronzezeitlichen Kannibalismus? Hunger steckte offenbar nicht dahinter, denn in der gleichen Fundschicht lagen auch zahlreiche Knochen großer Säugetiere – wahrscheinlich Jagdbeute der Täter oder der Opfer. Eine rituelle Entbeinung scheidet ebenfalls eher aus, wie die Archäologen erklären. Denn ein solches Totenritual ist aus dem Großbritannien der Bronzezeit nicht bekannt.

„Damit bleibt Kannibalismus im Kontext eines gewaltsamen Konflikts übrig“, konstatiert das Team. Durch das Entbeinen und den Verzehr des Fleisches wurden die Getöteten dabei absichtlich entmenschlicht und wie geschlachtete Tiere behandelt. „Charterhouse Warren kann demnach am besten als extreme Form einer ‚Gewalt als Schauspiel‘ interpretiert werden“, schreiben Schulting und seine Kollegen. „Ziel war es nicht nur, die andere Gruppe auszulöschen, sondern sie dabei auch gründlich auszugrenzen und zu entmenschlichen.“

Rache als Triebkraft für den Gewaltexzess

Aber warum? Isotopenanalysen zufolge waren die Getöteten lokaler Herkunft und daher keine Fremden oder Außenseiter. Die Archäologen gehen daher von einem Konflikt zwischen benachbarten Menschengruppen aus. „Das Ausmaß der Gewalt könnte darauf hindeuten, dass diese Taten aus Rache geschahen, vielleicht in Reaktion auf ein vorhergegangenes Ereignis oder den Bruch eines sozialen Tabus“, mutmaßen Schulting und sein Team.

Ein weiterer möglicher Grund könnte eine Seuche gewesen sein: Zwei der Toten waren DNA-Analysen zufolge mit dem Pesterreger Yersinia pestis infiziert. „Aber ob es einen Zusammenhang zu den Gewalttaten gab, wissen wir noch nicht“, sagt Schulting. „Charterhouse Warren ist aber in jedem Fall eine düstere Erinnerung daran, dass schon die Menschen der Frühgeschichte zu Gräueltaten fähig waren.“ Es sei zudem unwahrscheinlich, dass solche Gemetzel damals Einzelfälle waren. (Antiquity, 2024; doi: 10.15184/aqy.2024.180)

Quelle: University of Oxford

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