Bronzezeitliche Inzucht: Bei den Minoern und anderen bronzezeitlichen Kulturen der Ägäis war es erstaunlich üblich, Cousins und Cousinen ersten Grades zu heiraten. Während diese Form der Verwandtenehe in vielen frühen Kulturen tabu oder zumindest die Ausnahme war, machten solche Paare damals auf den griechischen Inseln 30 bis 50 Prozent aus – ein so hoher Anteil wurde bisher in Analysen alter DNA noch nie ermittelt, wie die Forschenden berichten.
Das östliche Mittelmeer, Kreta und die Inseln der Ägäis gelten als Wiege der ältesten Hochkulturen in Europa. Vor allem die vor rund 5.000 Jahren wie aus dem Nichts beginnende Zivilisation der Minoer prägte die Entwicklung dieser Region während der Bronzezeit. Sie errichteten komplexe Siedlungen, schufen kunstvollen Schmuck, prachtvolle Fresken und entwickelten mit Linear A eine bis heute nicht entzifferte Schrift.
DNA-Analysen von Menschen aus frühen ägäischen Kulturen
Jetzt zeigt sich, dass die frühen Kulturen der Ägäis auch in einer weiteren Hinsicht ungewöhnlich waren. Für ihre Studie haben Eirini Skourtanioti vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und ihre Kollegen die DNA von 102 Menschen analysiert, die von der Jungsteinzeit bis zu Eisenzeit in der Ägäis und auf Kreta gelebt hatten. Einige dieser Toten gehörten zur minoischen Kultur, andere zur mykenischen sowie zu frühen jungsteinzeitlichen Vorgängerkulturen.
Die Genomanalysen liefern erste Informationen dazu, wie sich die Bevölkerung im östlichen Mittelmeerraum im Laufe der Jahrtausende veränderte und wo ihre Wurzeln lagen. Zudem
Geben sie erstmals Einblicke in die Verwandtschaftsbeziehungen und Heiratspraktiken im minoischen Kreta und dem mykenischen Griechenland.
Vetternehe war die Regel
Das überraschendste Ergebnis: Auf Kreta und in der Ägäis war es vor 4.000 Jahren erstaunlich üblich, seine Cousine oder seinen Cousin ersten Grades zu heiraten. Im Schnitt 30 Prozent aller analysierten Individuen hatten Eltern, die in diesem Maße eng verwandt waren. „Auf kleineren Inseln erreichte diese Verwandtenehe sogar 50 Prozent, aber war in der gesamten Ägäis gängig“, berichten die Forschenden. Dieser Trend zur Vetternehe reichte zudem von der Jungsteinzeit bis in die späte Bronzezeit.
In vielen Kulturen sind Paarungen zwischen Cousinen und Cousinen eher die Ausnahme, oft sogar tabuisiert. Doch in der Ägäis war dies offenbar fast die Regel. „Mehr als tausend alte Genome aus den verschiedensten Regionen der Welt sind inzwischen publiziert, aber so ein strenges System der Verwandtenheirat scheint es sonst nirgendwo in der Antike gegeben zu haben“, sagt Skourtanioti. „Das kam für uns alle völlig überraschend und wirft viele Fragen auf.“
Wie diese besondere Heiratspraxis zu erklären ist, kann das Forschungsteam nur mutmaßen. „Vielleicht wollte man auf diese Weise verhindern, dass das ererbte Ackerland immer weiter aufgeteilt wurde?“, vermutet Skourtaniotis Kollege Philipp Stockhammer. „Auf jeden Fall garantierte es eine gewisse Kontinuität der Familie an einem Ort, was etwa für den Anbau von Oliven und Wein eine wichtige Voraussetzung ist.“
Erster Stammbaum einer mykenischen Familie
Die DNA-Analysen ermöglichten es auch, den ersten Familienstammbaum einer mykenischen Familie zu erstellen. Das genetische Material dafür stammte aus einem Gemeinschaftsgrab in der mykenischen Stadt Mygdalia, in dem während der späten Bronzezeit mindestens acht Kleinkinder auf dem Gelände eines Gehöfts bestattet worden waren. Skourtanioti und ihren Kollegen gelang es mittels DNA-Proben, die Verwandtschaftsbeziehungen dieser Kinder zu ermitteln.
Es zeigte sich: Sechs dieser Kinder waren die Kinder und Enkel eines einzigen Paares. Sie stammten von den drei Söhnen dieses Paares ab, die offenbar auch als Erwachsene noch mit auf dem Gehöft ihrer Eltern lebten. Ein weiteres Kind stammte von einer Cousine einer der Ehefrauen dieser Männer ab. Der Familienstammbaum dieser mykenischen Großfamilie ist der erste, der bislang für den frühen Mittelmeerraum rekonstruiert werden konnte.
„Sicher ist, dass die Analyse alter Genome uns auch in Zukunft fantastische, neue Einblicke in antike Familienstrukturen ermöglichen wird“, sagt Skourtanioti. (Nature Ecology & Evolution, 2023; doi: 10.1038/s41559-022-01952-3)
Quelle: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie