Archäologie

Neandertaler-Kind mit Down-Syndrom

Behindertes Kind wurde von der Neandertaler-Gemeinschaft umsorgt

Symbolbild Ausgrabung
Bei dem in Spanien entdeckten Fossil handelt es sich um einen Teil des Schläfenbeins aus dem Innenohr von einem Neandertaler-Kind. © gorodenkoff / iStock

Sozialer Zusammenhalt: Auch bei den Neandertalern gab es schon Kinder mit Down-Syndrom – und auch damals wurden solche Kinder offenbar liebevoll umsorgt, wie ein in Spanien entdecktes Fossil nahelegt. Es stammt aus dem Ohr eines sechs Jahre alten Neandertaler-Kindes und weist für Trisomie-21 typische Verformungen auf. Das vergleichsweise hohe Alter des Kindes legt nahe, dass sich die Neandertaler damals gemeinschaftlich um das Kind gekümmert haben, wie Archäologen in „Science Advances“ berichten.

Wenn einer unserer Mitmenschen krank oder verletzt ist, kümmern wir uns um ihn. Das haben bereits unsere Vorfahren und unsere Steinzeit-Cousins, die Neandertaler, so gemacht, wie aus früheren Studien hervorgeht. Einige Experten vermuten, dass dieses Verhalten vom Prinzip der Reziprozität motiviert war: Wie du mir, so ich dir. Andere Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Fürsorge ein rein altruistisches Verhalten ohne Erwartungen auf Gegenleistung ist.

Welchen Stellenwert die Pflege von Mitmenschen damals tatsächlich hatte, lässt sich am besten anhand von Kindern erforschen, die trotz einer angeborenen Erkrankung oder Behinderung überlebten. Denn diese Menschen wären kaum in der Lage gewesen, sich bei ihrer Gemeinschaft zu revanchieren. Doch Fossilien, die das Heranwachsen behinderter Neandertaler belegen, waren bislang nicht bekannt.

Original und 3D-Rekonstruktion des Fossils
Original und 3D-Rekonstruktion des Schläfenbein-Fossils CN-46700 des Kindes aus Cova Negra in Frontalansicht. © Julia Diez-Valero

Innenohr-Fossilien belegen Behinderung

Ein Team um Mercedes Conde-Valverde von der Universität in Alcalá de Henares in Spanien hat nun Überreste eines solchen Kindes entdeckt und untersucht. Das aus der mittleren Altsteinzeit stammende Knochenfossil wurde bereits 1989 in der archäologischen Stätte Cova Negra in der Nähe von Valencia ausgegraben. Es handelt sich um einen Teil des Schläfenbeins aus dem Innenohr von einem Kind, das etwa sechs Jahre alt wurde und zu den Neandertalern gehörte, wie CT-Analysen und Vergleiche mit anderen Fossilien ergaben.

3D-Modelle des Innenohrs des Kinder-Fossils aus Cova Negra und eines weiteren Fossils
3D-Modelle des Innenohrs des Kinder-Fossils aus Cova Negra und eines weiteren Fossils (Kebara 1). Der Vergleich zeigt die Erweiterung des lateralen Bogengangs bei dem Neandertaler-Kind mit Down-Syndrom. © Julia Diez-Valero

Seine Knochen weisen allerdings auffällige angeborene Verformungen auf, die denen von heutigen Menschen mit Down-Syndrom sehr ähnlich sehen, wie die Anthropologen berichten. So war beispielsweise seine Cochlea kleiner und der kürzeste Ohrenkanal, der laterale Bogengang, erweitert. Zusammengenommen haben diese anatomischen Merkmale wahrscheinlich dazu geführt, dass das Kind schwerhörig war und einen gestörten Gleichgewichtssinn hatte, wie das Team berichtet.

„Das einzige Syndrom, das mit der Gesamtheit der in [den Überresten] vorhandenen Fehlbildungen kompatibel ist, ist das Down-Syndrom“, schreiben die Forschenden. Demnach war dieses Kind wahrscheinlich stark pflegebedürftig und ist dennoch deutlich älter geworden als zu prähistorischen Zeiten bei diesem Erbgutdefekt erwartbar wäre.

Co-Elternschaft und Fürsorge

Angesichts der harschen Lebensbedingungen der Neandertaler im Paläolithikum hätte es die Mutter wahrscheinlich nicht geschafft, sich allein um das behinderte Kind zu kümmern und sich zugleich mit Nahrung zu versorgen, so Conde-Valverde und ihre Kollegen weiter. Sie schließen daraus, dass sich die Neandertaler in dieser Gemeinschaft zusammen um das Kind gekümmert und die Mutter bei der Pflege unterstützt haben – entweder, indem sie direkt das Kind oder die Mutter versorgten.

Das wiederum legt nach Ansicht des Teams nahe, dass die frühen Menschen sich aus Mitgefühl umeinander kümmerten und nicht aus Eigennutz. Denn das behinderte Kind konnte sich vermutlich nicht für die ihm geleistete Hilfe revanchieren. Conde-Valverde und ihre Kollegen sind daher der Meinung, dass „Fürsorge und kollaborative Elternschaft bei Neandertalern zusammen auftraten und dass diese beiden prosozialen Verhaltensweisen Teil einer breiteren sozialen Anpassung von hohem Selektionswert waren, die der unserer Spezies sehr ähnlich gewesen sein muss.“

Demnach profitierten die Hilfeleistenden möglicherweise nicht direkt davon, wenn sie sich um andere kümmerten. Auf lange Sicht aber zahlte sich das fürsorgliche Verhalten trotzdem aus. (Science Advances, 2024; doi: 10.1126/sciadv.adn9310)

Quelle: American Association for the Advancement of Science (AAAS)

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