Von wegen primitiv: Schon vor 80.000 Jahren nutzten Neandertaler einen komplizierten Prozess, um Klebstoff für ihre Werkzeuge herzustellen. Dafür vergruben sie Birkenrinde in der Erde, erhitzten diese mithilfe eines oberirdischen Feuers und produzierten so unter Luftabschluss das als Klebstoff verwendete Birkenpech. Belege für diesen Schwelprozess haben nun chemische Vergleichsanalysen von Birkenpechfunden aus Sachsen-Anhalt geliefert. Sie zeugen von fortgeschrittenen kognitiven Fähigkeiten und einer kulturellen Weitergabe bei den Frühmenschen.
Birkenpech ist eines der ältesten von Frühmenschen künstlich hergestellten Materialien. Schon vor rund 200.000 Jahren nutzten Neandertaler es als Klebstoff, um beispielsweise Steinspitzen an hölzernen Schäften zu befestigen. Doch wie die Neandertaler dieses Birkenpech herstellten, war bislang strittig – und damit auch, wie geistig anspruchsvoll diese Praxis war.
Zufällig am Lagerfeuer kondensiert oder unterirdisch hergestellt?
Das Pech kann einerseits zufällig entstehen, wenn Birkenrinde in der Nähe von Steinen verbrannt wird. Dann kondensiert eine dünne Schicht Pech auf der Oberfläche aus. Deutlich produktiver ist jedoch die Gewinnung des Birkenpechs mithilfe eines unterirdischen Schwelprozesses. Dabei wird Birkenrinde unter der Erde oder in einem aufgeschichteten Erdhügel vergraben und indirekt durch ein außen angelegtes Feuer erhitzt. Unter Sauerstoffmangel und Hitze tropft dann Birkenpech aus den Rindenstücken heraus und sammelt sich am Grund der Grube.
Das Entscheidende daran: Während die Neandertaler die erste Methode rein zufällig entdeckt und genutzt haben könnten, erfordert die unterirdische Pechproduktion gezielte Planung und fortgeschrittene kognitive Fähigkeiten. Denn einmal vergraben, ließ sich der Schwelprozess nicht beobachten und nur schwer korrigieren, die Methode musste daher nach Rezept durchgeführt werden. Doch welche Technologie die Frühmenschen für ihre Birkenpech-Herstellung nutzten, war bisher unbekannt.
80.000 Jahre altes Birkenpech im Vergleichstest
Diese Frage haben nun Patrick Schmidt von der Universität Tübingen und seine Kollegen geklärt. Für ihre Studie untersuchten sie zunächst zwei rund 80.000 Jahre alte Birkenpech-Proben aus der Neandertaler-Fundstätte Königsaue in Sachsen-Anhalt mithilfe von Infrarotspektroskopie, Gaschromatographie und Computertomografie. Die Fundstücke stammen aus einem saisonalen Jagdlager der Neandertaler, das damals an einem urzeitlichen See lag.
Diese Ergebnisse verglichen die Archäologen anschließend mit Birkenpech, das sie mittels oberirdischer Feuerkondensation oder aber verschiedenen Varianten des Untergrund-Schwelprozesses neu aus Birkenrinde erzeugt hatten.
Chemische Indizien für unterirdischen Schwelprozess
Die Vergleichsanalysen ergaben: Das Birkenpech der Neandertaler ähnelte chemisch am meisten den experimentellen Vergleichsproben, die durch den unterirdischen Schwelprozess hergestellt wurden. Indizien dafür lieferte unter anderem der aus der Birkenrinde stammende Inhaltsstoff Suberin. Dieser wurde in den beiden historischen Proben und den unterirdisch produzierten Birkenpech nachgewiesen, wie das Team berichtet. In den oberirdisch am Feuer hergestellten Proben trat das Suberin dagegen kaum auf.
Ein weiterer Unterschied zeigte sich im Gehalt an polyaromatischen Kohlenwasserstoffen. „Diese organischen Verbindungen werden während der unvollständigen Verbrennung in Holz- und Rindenfeuern gebildet und sind daher in Ruß häufig“, erklären Schmidt und seine Kollegen. Während diese Kohlenwasserstoffe daher in den oberirdisch durch Kondensation erzeugten Birkenpechproben reichlich vorhanden waren, fehlten sie im Neandertaler-Pech und den unterirdisch hergestellten Vergleichsproben.
„Zusammengenommen ist die chemische Signatur der beiden Birkenpech-Artefakte aus der Königsaue der von unterirdisch hergestellten Vergleichsproben am ähnlichsten“, berichten die Forschenden.
Hinweis auf Intelligenz und kulturelle Weitergabe
Nach Ansicht der Archäologen müssen daher schon die Neandertaler das aufwendigere und anspruchsvollere Herstellungsverfahren für diesen Urzeit-Klebstoff genutzt und beherrscht haben. Dies wiederum bedeutet, dass diese Frühmenschen die dafür nötigen kognitiven Fähigkeiten besessen haben müssen. Die Nutzung des Schwelprozesses legt zudem nahe, dass die Neandertaler auch eine kulturelle Weitergabe der dafür nötigen Rezepte praktizierten.
„Weil das Risiko für Fehlschläge bei solchen unterirdischen Techniken höher war, mussten spezifische Rezepte befolgt und präzise kopiert werden“, erklären die Archäologen. „Eine solche präzise Nachahmung gilt als ein Schlüsselelement für kumulative Kultur.“ Anders ausgedrückt: Die Neandertaler müssen ihre Methode der Klebstoffherstellung an nachfolgende Generationen weitergegeben und dabei immer weiter optimiert haben.
Damit liefert diese Studie erneut Beleg dafür, dass unsere eiszeitlichen Vettern deutlich intelligenter und kulturell fortgeschrittener waren als lange angenommen. (Archaeological and Anthropological Sciences, 2023; doi: 10.1007/s12520-023-01789-2)
Quelle: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt – Landesmuseum für Vorgeschichte