Frühe Kontakte: Schon lange vor Kolumbus hatten die Wikinger Handelsbeziehungen zu den Ureinwohnern Nordamerikas. Denn die Jagd auf Walrosse und deren Elfenbein-Stoßzähne führte die Wikinger-Jäger bis an die Grenze Grönlands zur nordamerikanischen Arktis. Etwa ab dem Jahr 1120 handelten sie mit den dort lebenden Tuniit und Thule Inuit, wie Analysen von in Europa gefundenen Elfenbein-Objekten aus dieser Zeit nahelegen. Die Jagd und der Handel mit Walross-Stoßzähnen könnten demnach den Anfang der Globalisierung darstellen.
Während der mittelalterlichen Warmzeit von circa 950 bis 1250 nach Christus jagten mehrere Menschengruppen Walrosse (Odobenus rosmarus rosmarus) im Nordpolarmeer: die in Skandinavien lebenden Wikinger und die in der nordamerikanischen Arktis lebenden Inuit. Zahlreiche Funde legen nahe, dass die Wikinger mit dem Elfenbein der Walross-Stoßzähne handelten. Sie versorgten vor allem das europäische Festland, aber auch den Nahen Osten und Asien, mit Elfenbein, wo aus dem wertvollen Material etwa Kruzifixe oder Schachfiguren hergestellt wurden.
Doch wie weit drangen die Nordeuropäer dafür in die Arktis vor, wie viel Walross-Elfenbein jagten sie selbst und wie umfassend war ihr Austausch mit den Inuit?
Wie weit die „Arktische Elfenbeinstraße“ damals reichte, hat nun ein Team um Emily Ruiz-Puerta von der Universität Kopenhagen untersucht. Dafür rekonstruierten die Archäologen und Biologen die damaligen Jagdzonen und Handelswege mithilfe von 31 Elfenbein-Artefakten, die in Europa gefunden wurden. Die Forschenden ermittelten per Radiokarbondatierung das Alter des Elfenbeins und untersuchten es genetisch, um seine Herkunft zu ermitteln. Als Vergleich für die DNA-Analysen diente das Erbgut aus Walrossknochen aus der Zeit zwischen 900 und 1500.
„Wir haben alte DNA aus Walrossproben extrahiert, die an einer Vielzahl von Orten in der nordatlantischen Arktis geborgen wurden“, erklärt Koautor Morten Tange Olsen von der Universität Kopenhagen. Bei den Proben handelte es sich um aus alten Wikinger-Siedlungen stammende Fragmente von Walross-Schädeln, die damals mitsamt den Stoßzähnen verschifft wurden. „Mit diesen Informationen konnten wir dann die genetischen Profile von Walross-Artefakten, die von Wikingern nach Europa gehandelt wurden, mit sehr spezifischen arktischen Jagdgründen abgleichen”, so Tange Olsen.
Von Skandinavien nach Grönland
Die Analysen ergaben, dass die ältesten Elfenbeinartefakte von Walrossen stammen, die in Fennoskandinavien oder Island lebten. Die Wikinger jagten diese Walrosse demnach anfangs noch „vor ihrer Haustür“. Spätere Artefakte aus der Zeit vor rund tausend Jahren stammen hingegen von Meeressäugern, die weiter nordwestlich, rund um Grönland lebten. Etwa um diese Zeit entstanden auch die ersten Siedlungen der Wikinger auf Grönland.
Noch vor dem Jahr 1120 verließen die europäischen Wikinger demnach die leergefegten Jagdgründe in Island in Richtung Nordwesten. Die Walross-Jäger weiteten ihre Jagdgründe dabei schrittweise entlang der grönländischen Küste nach Norden aus. Von den damaligen Siedlungen der Inuit in der nördlichen Davisstraße waren sie aber zunächst noch weit entfernt, wie Ruiz-Puerta und ihr Team ermittelten. Dass sie zu dieser Zeit bereits Handel mit den Einheimischen betrieben, ist daher eher unwahrscheinlich.
Doch Ruiz-Puerta und ihre Kollegen identifizierten auch Elfenbein, das von Walrössern aus weiter nordwestlich gelegenen Gegenden stammt. Diese Artefakte waren allerdings jüngeren Datums. Demnach weiteten die nordeuropäischen Jäger ihre Reisen erst nach 1120 – zur Blütezeit des europäischen Elfenbeinhandels – weiter aus und drangen dann bis in abgelegene Zonen der Arktis vor, wo auch die Thule und Tuniit Inuit lebten.
Dazu zählt auch die Region Pikialasorsuaq, auch bekannt als Nordwasser, ein offenes Gewässer in der nördlichsten Davisstraße an der Grenze Grönlands zum nordamerikanischen Ellesmere Island. Von dort stammte knapp die Hälfte der untersuchten Elfenbeinartefakte. Drei andere Artefakte stammten sogar von Walross-Populationen im kanadischen Nunavut. Die Wikinger legten bei ihrer Suche nach Walrossen demnach eine größere Distanz zurück als bisher angenommen.
Ob die Wikinger dabei bis ins arktische Nordamerika vordrangen und dort selbst jagten oder ob sie „nur“ mit den örtlichen Inuit handelten, ist jedoch unklar. Um herauszufinden, ob die Wikinger mit ihrer damaligen Seefahrt-Technik überhaupt in diese arktischen Gewässer gelangen konnten, rekonstruierten die Forschenden daher die wahrscheinlichen Seerouten der Jäger, indem sie selbst in traditionellen norwegischen Klinkerbooten auf Reisen gingen.
Demnach war die Reise bis mindestens nach Pikialasorsuaq in diesen Booten durchaus möglich, jedoch zeitlich auf etwa zehn Wochen im Sommer begrenzt: „Walrossjäger verließen die Wikinger-Siedlungen vermutlich, sobald sich das Meereis zurückzog. Diejenigen, die es auf den hohen Norden abgesehen hatten, hatten ein sehr enges saisonales Zeitfenster, in dem sie die Küste hinauffahren, Walrosse jagen, die Häute und das Elfenbein an Bord ihrer Schiffe verarbeiten und lagern und nach Hause zurückkehren konnten, bevor die Meere wieder zufroren“, erklärt Koautor Greer Jarrett von der Universität Lund.
Treffen zweier Kulturen
Die Erkenntnisse belegen, dass Wikinger und Inuit im Mittelalter tatsächlich zeitweise in denselben Gebieten Walrösser jagten und aufeinandertrafen. Das kurze saisonale Zeitfenster legt jedoch nahe, dass die Wikinger das Elfenbein größtenteils handelten, statt selbst zu jagen – „obwohl unklar bleibt, was die Nordmänner im Gegenzug anbieten konnten“, so das Team. „Es war das Aufeinandertreffen zweier völlig unterschiedlicher Kulturwelten“, sagt Seniorautor Peter Jordan von der Universität Lund über die arktischen Treffen.
„Die skandinavischen Wikinger hatten europäische Gesichtszüge, waren wahrscheinlich bärtig, in Wollkleider gekleidet und fuhren in auf Planken gebauten Schiffen“, so Jordan. Die Thule hatten hingegen eher asiatische Gesichtszüge und trugen warme und isolierte Pelzkleidung. Sie paddelten in Kajaks und benutzten offene Umiak-Boote, die aus über Rahmen gespannten Tierhäuten bestanden. Zudem nutzten die Thule-Inuit ausgeklügelte Knebelharpunen, um Walrosse in offenen Gewässern zu jagen, während die Wikinger die Walrosse an küstennahen Fangplätzen mit eisernen Lanzen angingen.
Beginn der Globalisierung
Wie genau die Begegnungen dieser beiden Gruppen abliefen, bleibt unklar. Sie markieren jedoch den Beginn des globalen Handels – mehrere Jahrhunderte bevor Christoph Kolumbus Nordamerika „entdeckte“ und der Handel zwischen der Neuen und Alten Welt begann. „Unabhängig vom genauen Charakter dieser Wechselwirkungen kann nun das Pikialasorsuaq (Nordwasser-Polynja) als der wahrscheinlichste Schauplatz für die frühesten Phasen der zirkumpolaren Globalisierung identifiziert werden“, schließen Ruiz-Puerta und ihre Kollegen.
Ähnlich wie bei der Seidenstraße, die im gleichen Zeitraum das mittelalterliche Eurasien umspannte, war der Antrieb der weitreichenden Elfenbeinstraße der Konsum der Eliten in den Großstädten Europas, so das Team. (Science Advances, 2024; doi: 10.1126/sciadv.adq4127)
Quellen: American Association for the Advancement of Science (AAAS), Universität Lund, Universität Kopenhagen