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Archäologie

Welches reale Vorbild steckt hinter dem mythischen Greif?

Wissenschaftler stellen Einfluss von Dinosaurierknochen auf Fabelwesen infrage

Greif und Protoceratops-Fossilien
Ist der mythologische Greif doch nicht von fossilen Überresten des Protoceratops inspiriert? © Mark P. Witton/ Witton and Hing (2024)

Mythos auf dem Prüfstand: Unsere Vorfahren haben sich offenbar doch nicht von Dinosaurierfossilien inspirieren lassen, als sie Fabelwesen wie Greif und Drache erfanden, wie Wissenschaftler herausgefunden haben. Demnach basiert zumindest der mythologische Greif wohl doch nicht auf Protoceratops-Fossilien aus der Mongolei. Zwar klingt diese Theorie plausibel, sie bröckelte bei genauerer Betrachtung aber an allen Fronten, wie die Forscher berichten.

In allen Kulturen existieren Geschichten von rätselhaften Fabelwesen wie Drachen, Einhörnern und Seeungeheuern. Doch woher nahmen unsere Vorfahren die Inspiration für solche mythologischen Kreaturen? Zumindest der Ursprung des Greifs – einer mächtigen geflügelten Raubkatze mit dem Kopf eines Greifvogels – schien seit den 1990er Jahren geklärt.

Damals veröffentlichte die US-amerikanische Historikerin und Autorin Adrienne Mayor folgende These: Nomaden, die in Zentralasien nach Gold schürften, müssen einst aus Versehen auf die fossilen Überreste eines Protoceratops gestoßen sein – eines kleinen Verwandten des Triceratops. Über Handelsrouten gelangte die Kunde von dem vierbeinigen Wesen mit Schnabel und flügelartigen Fortsätzen am Nackenschild schließlich in den Mittelmeerraum, wo sie den Mythos und künstlerische Darstellungen des Greifs inspirierte.

Wahrheit oder Spekulation?

Diese Idee zum Ursprung des Greifs hat längst in viele verschiedene Bücher, Dokumentarfilme und sogar Museumsausstellungen Einzug gehalten und wird dabei häufig als historischer Fakt dargestellt. Doch tatsächlich ist Mayors Idee noch nie einer tiefgreifenden wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen worden – bis jetzt.

Um herauszufinden, ob die Protoceratops-Hypothese tatsächlich stimmt, sind Mark Witton und Richard Hing von der University of Portsmouth ihr nun wie Detektive nachgegangen. Dafür werteten die Paläontologen unter anderem historische Fossilienaufzeichnungen und die geografische Verbreitung von Protoceratops-Fossilien aus. Außerdem berieten sie sich intensiv mit Historikern und Archäologen, um auch die kulturelle Sicht auf das geflügelte Fabelwesen zu verstehen.

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Entdeckung durch Goldschürfer ist unplausibel

Das Ergebnis: Keines der Argumente, das den Zusammenhang zwischen Protoceratops-Fossilien und Greifen-Mythologie belegen soll, hielt der Überprüfung stand, wie Witton und Hing berichten. Da wäre allen voran die Annahme, dass Nomaden die fossilen Überreste beim Goldschürfen gefunden hätten. Wie die Auswertung der Paläontologen ergab, liegen alle bekannten Fundorte von Protoceratops-Fossilien hunderte Kilometer von antiken Goldfund- und Schürfstellen entfernt.

Selbst wenn die Nomaden in der Nähe eines Fossilien-Vorkommens nach Gold gesucht hätten, erscheint es immer noch überaus zweifelhaft, dass ihnen die versteinerten Skelettüberreste überhaupt aufgefallen wären, wie Witton erklärt: „Im Allgemeinen ist nur ein Bruchteil eines erodierten Dinosaurierskeletts mit bloßem Auge sichtbar, unbemerkt für alle, außer für scharfsichtige Fossilienjäger.“ Um mehr von den Protoceratops-Fossilien zu sehen, hätten die Nomaden sie aus dem Gestein lösen müssen, was selbst mit modernen Werkzeugen keine leichte Aufgabe ist, so die Forscher.

Verbreitung und Aussehen passen nicht ins Bild

Was ebenfalls nicht mit Mayors Idee zusammenpasst, ist das geografische Verbreitungsmuster der Greifenkunst. Denn anders als von ihr vorgeschlagen verbreitete sich das Motiv der geflügelten Raubkatze nicht etwa von Zentralasien nach Westen, sondern vom antiken Griechenland nach Osten – also genau anders herum. „Die Behauptung von Mayor, dass die griechischen Greifen von asiatischen Kulturen beeinflusst wurden, stellt diese dokumentierte Geschichte auf den Kopf“, schreiben Witton und Hing.

Protoceratops und Greifenkunst im Vergleich
Die Anatomie des Protoceratops hat so gut wie nichts mit antiker Greifenkunst gemeinsam. © Witton and Hing (2024)

Darüber hinaus erinnern künstlerische Darstellungen von Greifen die Paläontologen nicht einmal ansatzweise an die Anatomie eines Protoceratops. Es stimmen lediglich die Vierbeinigkeit und das Vorhandensein eines Schnabels überein, aber alles andere – von den Proportionen über die Muskelverteilung bis hin zur Form – hat laut Witton und Hing absolut nichts mit einem Protoceratops gemeinsam. Sie gehen stattdessen davon aus, dass das Greifenmotiv einfach von Großkatzen und Vögeln inspiriert war.

Spekulation statt Fakt

Dass der mythologische Greif auf Dinosaurierknochen beruht, werten die Paläontologen daher als reine Spekulation ohne faktische Grundlage. Dasselbe gelte für die Vorstellung, dass Drachen von Dinosaurierfossilien inspiriert sind und Zyklopen von den versteinerten Überresten ausgestorbener Elefanten. „Wir fördern diese Geschichten, weil sie aufregend sind und intuitiv plausibel erscheinen, aber dabei ignorieren wir unser wachsendes Wissen über fossile Geomythen, die auf Fakten und Beweisen beruhen“, erklärt Witton.

Denn es gibt durchaus Folklore, die nachweislich von Fossilien inspiriert ist, wie die Forscher betonen. So gilt es etwa als gut belegt, dass Ammoniten einst für zusammengerollte Steinschlangen gehalten wurden, die vor Schlangenbissen schützen und gegen Blindheit, Unfruchtbarkeit und Impotenz helfen sollten. (Interdisciplinary Science Reviews, 2024; doi: 10.1177/03080188241255543

Quelle: University of Portsmouth

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