Medizin

ADHS wird zu häufig diagnostiziert

Urteil wird anhand von Faustregeln statt mithilfe gültiger Diagnosekriterien gefällt

Was Experten und die Öffentlichkeit schon lange vermuten, haben Forscher nun erstmals auch mit aussagekräftigen Daten belegt: ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, wird zu häufig diagnostiziert. Psychotherapeuten und Psychiater für Kinder und Jugendliche fällen ihr Urteil offensichtlich eher anhand von Faustregeln, statt sich eng an die gültigen Diagnosekriterien zu halten. Insbesondere bei Jungen stellen sie deutlich mehr Fehldiagnosen als bei Mädchen.

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Das sind die zentralen Ergebnisse einer Studie über die Professor Silvia Schneider und Professor Jürgen Margraf von der Ruhr-Universität Bochum (RUB) sowie Dr. Katrin Bruchmüller von der Universität Basel jetzt im „Journal of Consulting and Clinical Psychology“ und in der Fachzeitschrift „Psychotherapeut“ berichten.

Leon hat ADHS, Lea nicht

Befragt haben die Forscher insgesamt 1.000 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater bundesweit. 473 nahmen an der Befragung teil. Sie erhielten je eine von vier unterschiedlichen Fallgeschichten, sollten eine Diagnose stellen und eine Therapie vorschlagen. In drei der vier Fälle lag anhand der geschilderten Symptome und Umstände kein ADHS vor, nur ein Fall war mit Hilfe der geltenden Leitlinien und Kriterien eindeutig als Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung diagnostizierbar.

Da die Wissenschaftler auch noch das Geschlecht der „Patienten“ variierten, wurden insgesamt acht verschiedene Fälle beurteilt. Daraus ergab sich bei je zwei gleichen Fallgeschichten ein deutlicher Unterschied: Leon hat ADHS, Lea nicht.

Männlich und auffällig: der „Prototyp“ macht’s

Viele Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater gehen dabei offensichtlich eher heuristisch vor und entscheiden nach prototypischen Symptomen, so die Wissenschaftler. Der Prototyp ist männlich und zeigt Symptome von motorischer Unruhe, mangelnder Konzentration oder Impulsivität. Die Nennung dieser Symptome löst bei den Diagnostikern nach Angaben der Forscher in Abhängigkeit vom Geschlecht unterschiedliche Diagnosen aus.

Treten diese Symptome bei einem Jungen auf bekommt er die Diagnose ADHS, die identischen Symptome bei einem Mädchen führen jedoch zu keiner ADHS-Diagnose. Es spielt zudem eine Rolle, wer die Diagnose stellt: Mann oder Frau. Männliche Therapeuten diagnostizierten signifikant häufiger ein ADHS als weibliche.

Inflationäre Diagnosen, mehr Medikamente, höhere Tagesdosen

Fast schon inflationär hieß es in den vergangenen Jahrzehnten bei den „Zappelphilipps“ und schwierigen Kindern: Diagnose ADHS. Zwischen 1989 und 2001 stieg die Anzahl den Forschern zufolge in der klinischen Praxis um unglaubliche 381 Prozent. Die Ausgaben für ADHS-Medikamente haben sich in einem vergleichbaren Zeitraum von 1993 bis 2003 verneunfacht – beispielsweise für das leistungssteigernde Mittel Methylphenidat.

In Deutschland berichtet etwa die Techniker Krankenkasse für ihre Versicherten der Altersgruppe sechs bis 18 Jahre einen Anstieg der Methylphenidat-Verschreibungen um 30 Prozent in der Zeit von 2006 bis 2010. In diesen Jahren haben sich auch die Tagesdosierungen im Schnitt um zehn Prozent erhöht.

Bemerkenswertes Forschungsdefizit

Nimmt man nur diese Zahlen, so ergibt sich ein erhebliches Forschungsdefizit. „Dem großen öffentlichen Interesse steht eine bemerkenswert geringe Basis an empirischen Studien zu diesem Thema gegenüber“, so Schneider und Bruchmüller. Gab es in den 1970er und 1980er Jahren einen „gewissen Aufschwung“ in der Untersuchung von Häufigkeit und Ursachen von Fehldiagnosen, beachtet die Forschung dies seitdem kaum noch.

Die aktuelle Studie zeigt: Um eine falsche Diagnose bei ADHS und eine vorschnelle Behandlung zu verhindern, ist es entscheidend, sich nicht auf seine Intuition zu verlassen, sondern sich klar an den festgelegten Kriterien zu orientieren. Das gelingt am besten mit Hilfe von standardisierten Befragungsinstrumenten, zum Beispiel diagnostischen Interviews. (Psychotherapeut 2012, DOI:10.1007/s00278-011-0883-7)

(Ruhr-Universität Bochum, 02.04.2012 – DLO)

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