Uralte Klone: Ein unscheinbares Fleckchen Seegras in der Ostsee hat sich als echter Methusalem entpuppt – es ist die älteste bekannte Meerespflanze. Die ersten Sprosse dieses Seegras-Klons wuchsen schon zur Zeit der Völkerwanderung vor rund 1.400 Jahren, wie eine neue Methode der genetischen Datierung enthüllt. Damit übertrifft dieses Seegras das Alter der meisten Bäume. Weil sich diese Pflanze ungeschlechtlich durch genetisch identische Ausläufer vermehrt, lässt sie sich nur durch detaillierte Mutationsvergleiche datieren.
Wenn es um besonders langlebige Pflanzen geht, denken die meisten von uns an Bäume – nicht ganz zu Unrecht. Immerhin können einige Baumarten mehrere hundert bis sogar einige tausend Jahre alt werden. So hat der älteste Baum Europas, eine Schlangenhaut-Kiefer im Norden Griechenlands, schon rund 1.080 Jahre auf dem Buckel. Noch deutlich älter ist eine Echte Sumpfzypresse (Taxodium distichum), die Biologen in einem Feuchtgebiet in North Carolina aufgespürt haben: Sie ist mindestens 2.624 Jahre alt.
Pflanze klont sich selbst
Doch auch unter scheinbar kurzlebigen, fragilen Meerespflanzen wie dem Seegras (Zostera marina) gibt es Methusalems. Ihr hohes Alter fällt jedoch nicht ohne Weiteres auf, weil diese Pflanzen sich ungeschlechtlich durch Klonen vermehren. „Beginnend mit einer einzigen Zygote entwickeln sich die Zellen zu immer neuen Sprossen, de dann oft nach ein paar Jahren physioklogisch unabhängig von dem Elterngewebe werden“, erklären Lei Yu vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und seine Kollegen.
Die austreibenden neuen Sprosse sorgen für eine äußerliche Verjüngung der Seegraspflanze. Genetisch gehören die jungen Sprosse solcher sogenannten klonalen Arten aber noch immer zum selben Organismus. Beim Seegras können die Wiesen aus Klonen sogar die Größe eines Fußballfelds erreichen. Doch wie alt das gesamte klonale Exemplar ist, lässt sich oft nicht leicht ermitteln, weil das Gewebe der ursprüngliche Gründerpflanze schwer zu identifizieren oder nicht erhalten ist.
Mutationen als molekulare Uhr
Jetzt hat das Team um Yu eine Methode entwickelt, um auch das Alter solcher klonalen Pflanzenarten zu bestimmen. Als Indikator dienen dabei Mutationen in den Zellen der Seegras-Sprosse, die sich im Laufe der Zeit in den vegetativen Nachkommen anhäufen. Kennt man die normale Mutationsrate der betreffenden Pflanzenart, lässt sich das Alter eines Exemplars anhand hochauflösender DNA-Analysen und DNA-Vergleiche ermitteln.
Im Falle des Seegrases unetrsuchten Yu und seine Kollegen einen seit 17 Jahren im Labor kultivierten Seegras-Klon, um die durchschnittliche Mutationsrate dieser Art zu ermitteln. Durch Vergleiche mit einem hochauflösenden Referenzgenom gelang es ihnen, eine Art molekulare Uhr für das Seegras Zostera marina zu entwickeln. Durch Abgleich mit dieser genetischen Uhr lässt sich nun das Alter eines jeden Klons mit hoher Präzision bestimmen.
Seegras -Klon in der Ostsee ist 1.400 Jahre alt
Als Yu und seine Kollegen mithilfe dieser molekularen Uhr weltweite Genomdaten des vom Pazifik bis zum Atlantik und Mittelmeer verbreiteten Seegrases untersuchten, wurden sie quasi vor unserer Haustür fündig: Als ältestes Exemplar erwies sich ein Seegras-Klon aus der Ostsee. Dieser Klon hat trotz rauer Bedingungen und wechselhafter Umwelt das stolze Alter von 1.402 Jahren erreicht – er stammt damit noch aus der Zeit der Völkerwanderung.
Dieses Seegras ist damit älter als der älteste Baum in Europa und übertrifft auch das Alterslimit des Grönlandhais oder der Arktischen Islandmuschel, die immerhin einige hundert Jahre alt werden, bei weitem. Doch es geht vermutlich noch älter: „Wir erwarten, dass andere Seegrasarten der Gattung Posidonia (Neptungras) und ihre Klone, deren Ausbreitung sich im Mittelmeer und vor der australischen Küste über mehr als zehn Kilometer erstrecken, noch viel höhere Alterswerte aufweisen und damit die mit Abstand ältesten Organismen der Erde sind“, sagt Seniorautor Thorsten Reusch vom GEOMAR.
Datierung ist auch für andere klonale Arten anwendbar
Die von ihm und seinem Team entwickelte Uhr kann nun auch auf andere Arten mit klonaler Vermehrung angewendet werden, von Korallen über Algen bis hin zu Pflanzen wie Schilf oder Erdbeeren. „Solche Daten sind Voraussetzung, um eines der langjährigen Rätsel der Evolutionsbiologie zu lösen, nämlich warum solche großen Klone trotz variabler und dynamischer Umgebungen überhaupt existieren können“, sagt Reusch. (Nature Ecology & Evolution, 2024; doi: 10.1038/s41559-024-02439-z)
Quelle: GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel