Affen beherrschen bereits eine Vorstufe des Lesens: Sie können gedruckte sinnvolle Wörter von gleich langen, unsinnigen Buchstabenkombinationen unterscheiden. Das zeigt ein Experiment französischer Forscher mit Pavianen. Die Affen erkannten bis zu 300 kurze englische Wörter – und dies mit einer Trefferquote von 75 Prozent. Selbst neue, nie zuvor gesehene Wörter konnten sie häufig anhand typischer Buchstabenfolgen von Nichtwörtern unterscheiden. Obwohl sie keine Sprache besäßen, hätten die Paviane damit Fähigkeit, einen orthografischen Code zu entschlüsseln. Sie seien auf ähnliche Weise wie der Mensch sensibel für die Grundmerkmale einer Schrift, berichten die Forscher im Fachmagazin „Science“.
Noch bevor wir den Sinn eines Wortes erfassen, weiß unser Gehirn, ob es sich um ein Wort unserer Sprache handelt. Es erkennt die Form der Zeichen und ihre Position als Buchstaben und Wortteile. Gleichzeitig registriert das Gehirn auch, ob diese Buchstabenkombination in unserer Sprache üblich ist. Diese Fähigkeit der Worterkennung galt bisher als untrennbar mit der Fähigkeit zur Sprache verbunden. Mit ihrem Pavian-Versuch wiederlegen Jonathan Grainger von der Aix-Marseille Université und seine Kollegen nun die gängige Lehrmeinung. „Die Paviane haben gelernt, verschiedene Buchstaben voneinander zu unterscheiden und die Positionen dieser Buchstaben auszuwerten“, schreiben die Forscher. Das belege, dass vorheriges Sprachwissen keine Voraussetzung sei, um orthografische Zeichen ähnlich wie der Mensch zu verarbeiten.
Touchscreen mit Buchstabenfolgen
Für ihre Studie hielten die Forscher sechs Paviane in einem Gehege mit freiem Zugang zu mehreren Touchscreens. Auf diesen erschien in zufälliger Reihenfolge entweder ein englisches, aus vier Buchstaben bestehendes Wort, beispielsweise land, them, vast oder done, oder aber eine gleichlange sinnlose Buchstabenkombination. Die echten Wörter wurden im Verlauf von 100 Trainingsdurchgängen nacheinander eingeführt und dann jeweils mehrfach wiederholt, die Nichtwörter tauchten jeweils nur einmal auf. Nach jeder Zeichenfolge mussten die Paviane durch Berühren zweier Symbole entscheiden, ob sie ein echtes Wort oder ein Nichtwort gesehen hatten. Bei richtiger Entscheidung erhielten sie Futter als Belohnung.
Fehlerkurve wie beim Menschen
Bereits nach eineinhalb Monaten hatten die Paviane gelernt, Dutzende von Wörtern von den Nichtwörtern zu unterscheiden, wie die Forscher berichten. Die Spanne habe dabei von 81 Wörtern bei Pavian „Vio“ bis zu 308 Wörtern bei Pavian „Dan“ gereicht. Ähnlich wie beim Menschen war dabei die Anzahl der Fehler umso größer, je ähnlicher die Nichtwörter tatsächlich existierenden englischen Begriffen waren.
„Aber noch wichtiger: Selbst echte Wörter, die die Paviane zum ersten Mal sahen, wurden von ihnen signifikant weniger häufig als „Nichtwort“ eingestuft als die Nonsenskombinationen“, schreiben Grainger und seine Kollegen. Das deute darauf hin, dass die Paviane unbewusst auch gelernt hatten, dass bestimmte Buchstabenkombinationen statistisch besonders häufig oder aber nie in den echten Worten vorkamen. Diese Art statistischen Lernens sei möglicherweise sogar ein universeller, bei verschiedenen Tierarten vorkommender Mechanismus, meinen die Forscher. (doi: 10.1126/science.1218152)
(Science, 13.04.2012 – NPO)