Soziale Insekten wie Bienen oder Ameisen leben in einem strengen Kastensystem – einer präzisen Einteilung von Pflichten zwischen den Mitgliedern des Insektenstaates. In den meisten Fällen entscheiden die Umweltbedingungen darüber, ob sich eine Larve zu einer Königin oder einer unfruchtbare Arbeiterin entwickelt. Doch jetzt haben Wissenschaftler Ameisenkolonien entdeckt, bei denen die Gene, nicht die Umwelt, über den späteren Werdegang der einzelnen Tiere entscheiden.
Eine Kolonie von Ernteameisen besteht normalerweise aus einer Königin und hunderten oder Tausenden von sterilen Arbeiterinnen. Männliche Ernteameisen, die aus unbefruchteten Eiern entstehen, dienen typischerweise nur einem Zweck: sich mit einer Königin zu paaren. Entsprechend legt eine Königin auch nur dann Eier für Männchen und fruchtbare Weibchen, wenn neue Kolonien gegründet werden sollen.
Entscheidende Genunterschiede entdeckt
Steve Rissing, Biologieprofessor an der Ohio State University in Columbus und seine Kollegen haben Ernteameisen im südlichen Arizona und Neumexiko untersucht und dabei festgestellt, dass einige der Männchen dieser Kolonien ungewöhnlich aussahen. Sie sammelten mehrere Dutzend Paare von Königinnen und Männchen ein und analysierten ihre Gene im Labor – mit überraschenden Resultaten.
„Die DNA von einigen dieser Ameisen war einfach seltsam – wir haben absolut nicht erwartet, solche Ergebnisse zu bekommen“, erklärt Rissing. „Es scheint, dass die Königinnen in diesen Kolonien sich mit Männchen zweier unterschiedlicher genetischer Linien paaren. Aus der Paarung mit einer Linie entstanden normalerweise fruchtbare Weibchen – neue Königinnen. Aber paarten sie sich mit der anderen genetischen Linie, wurden aus den Nachkommen überwiegend unfruchtbare Arbeiterinnen.“
“Diese Art des reproduktiven Verhaltens unterscheidet sich erheblich von dem, was wir in Ameisenkolonien kennen“, fährt der Forscher fort. „Wir haben erwartet, in allen Tieren der Kolonie die gleiche DNA Sequenz zu finden. Aber das war hier nicht der Fall.“ Sowohl die Männchen als auch die Königinnen gehörten jeweils zwei Genlinien an. Traditionellen Interpretationen nach diktiert der Bedarf an Arbeiterinnen einer Kolonie das Schicksal der jeweils geborenen Nachkommen, unabhängig von jeder genetischen Disposition. Doch diese Studie scheint diese Annahmen jetzt zu widerlegen.
Gezielte Paarung sorgt für Gleichgewicht
Damit die gewünschte Parität zustande kommt, muss sich, so schließen die Wissenschaftler, die Königin während ihrer einzigen Paarungssaison mit Männchen der beiden unterschiedlichen Linien paaren. Nur dann kann sie von beiden Spermiensorten einen Vorrat speichern und mit diesem die Eier befruchten. Dies setzt jedoch voraus, dass sie die unterschiedlichen Männchen auch erkennt. Aber wie?
Auch hier brachten die eingesammelten Ameisen den Aufschluss: Die Männchen beider Genlinien waren unterschiedlich gefärbt. Orientiert sich die Königin an dieser Farbe, kann sie sicherstellen, dass sie sich mit beiden Typen häufig genug paart, um von beiden Spermien einen Vorrat anzulegen, der das Überleben der Kolonie sichert.
Umgekehrt haben die Männchen offenbar keine Chance, die Genlinien der Königinnen zu unterscheiden – zum Glück: „Wenn Männchen das könnten, könnte dies das Ende der Kolonie bedeuten“, erklärt Rissing. Denn theoretisch will jedes Männchen seine Gene an kommende Generationen weitergeben. Paart es sich jedoch mit einem Weibchen der anderen Genlinie, sind die Nachkommen unfruchtbare Arbeiterinnen und seine Gene sterben damit aus. Würde es sich deshalb jedoch nur mit Weibchen der eigenen Linie paaren, fehlen der Kolonie später die Arbeiterinnen.
„Diese Population der Ernteameisen braucht das Zwei-Linien-System um zu überleben. Die hybride Arbeiterinnenkaste ist das Bindeglied zwischen den ansonsten unabhängigen Genlinien H1 und H2“, so der Forscher. „Das ist einziemlich ungewöhnliches Ergebnis. Aber mit dem Zugang zu immer besseren Analysewerkzeugen, mit denen wir solche Vorgänge auch auf molekularer Ebene erforschen können, werden wir höchstwahrscheinlich feststellen, dass sich eine ganze Reihe von sozialen Insekten von unseren Vorstellungen und Theorien abweicht.“
(Ohio State University, 27.01.2005 – NPO)