Rapider Schwund: Das Artensterben raubt dem Lebensstammbaum nicht nur seine kleinsten Zweige – die Verarmung erstreckt sich auch auf dickere Äste in Form ganzer Gattungen und Familien, wie eine Studie enthüllt. Demnach sind seit dem Jahr 1500 allein bei den Landwirbeltieren 73 Gattungen, zehn Familien und zwei Ordnungen ausgestorben. Ohne menschliche Einflüsse hätte das Aussterben so vieler höherer Stammbaum-Ebenen rund 18.000 Jahre gebraucht. Der Lebensstammbaum hat demnach größere Lücken als bisher angenommen.
Im Laufe seiner Geschichte hat unser Planet immer wieder große Massenaussterben durchlebt, bei denen bis zu 75 Prozent der gesamten Lebenswelt ausstarben. Auslöser waren oft Klimaveränderungen durch extremen Vulkanismus oder zerbrechende Kontinente, aber auch Asteroideneinschläge wie vor 66 Millionen Jahren am Ende der Dinosaurier-Ära. Aktuell befinden wir uns mitten im sechsten Massenaussterben, Ursache ist diesmal jedoch der Mensch. Seit es unsere Spezies gibt, sind bereits hunderte Arten ausgestorben. Eine Million weitere sind aktuell kurz davor.
Blick auf höhere Stammbaum-Ebenen
Bisherige Bestandsaufnahmen des Artenschwunds betrachten meist nur die Ebene der Spezies, beziehen aber nicht die übergeordneten Ebenen des Stammbaums mit ein. Als Folge bleibt unklar, wie stark sich das Verschwinden der Arten auch auf größere Einheiten im Baum des Lebens auswirkt. Denn stirbt mit einer oder mehreren Arten auch die ganze Gattung, Familie oder sogar Ordnung aus, reißt dies weit größere Lücken in den Stammbaum.
Gerardo Ceballos von der Nationalen Autonomen Universität Mexiko und Paul Ehrlich von der Stanford University haben sich das Ausmaß des sechsten Massenaussterbens nun erstmals auch oberhalb der Art-Ebene angeschaut. Konkret haben sie untersucht, wie viele Gattungen, Familien und Ordnungen von Landwirbeltieren zwischen 1500 und 2022 ausgestorben sind. Die Daten dafür entnahmen sie vor allem dem Register der International Union for the Conservation for Nature (IUCN), das erfasst, welche Arten bereits ausgestorben sind und wie stark gefährdet die verbliebenen sind.
Mindestens 73 Gattungen verschwunden
Das Ergebnis: Insgesamt 73 Gattungen, zehn Familien und zwei Ordnungen von Landwirbeltieren sind allein zwischen 1500 und 2022 ausgestorben, wie Ceballos und Ehrlich berichten. Der Baum des Lebens sei dadurch mittlerweile regelrecht verstümmelt. „Die meisten Aussterbefälle sind bei den Vögeln zu verzeichnen, gefolgt von den Säugetieren, den Amphibien und den Reptilien“, berichten die Forscher.
Bei den beiden ausgestorbenen Ordnungen handelt es sich jeweils um nicht flugfähige Riesenvögel: einerseits die Elefantenvögel aus Madagaskar und andererseits die Moas aus Neuseeland. Beide Vogelordnungen wurden ausgerottet, als Menschen die Inseln erreichten und die Vögel intensiv bejagten. Auch vier der zehn ausgestorbenen Familien sind Vögel, darunter die hawaiianischen Honigfresser. Die restlichen sechs gehörten den Säugetieren an und umfassten unter anderem die madagassischen Faultier-Lemuren.
35-mal höhere Aussterberate als normal
„Es besteht kein Zweifel daran, dass das sechste, vom Menschen verursachte Massenaussterben schwerwiegender ist als bisher angenommen und sich rasch beschleunigt“, betonen Ceballos und Ehrlich. Das verdeutlicht auch die von ihnen ermittelte Aussterberate. Ohne menschliche Einflüsse wären demnach in den vergangenen Millionen Jahren alle 100 Jahre im Schnitt 0,75 von 10.000 Gattungen ausgestorben. Legt man diese Rate als Maßstab an, dann hätten zwischen 1500 und 2022 maximal zwei Gattungen aussterben dürfen.
Die 73 Gattungen, die tatsächlich ausgestorben sind, bedeuten im Umkehrschluss, dass die aktuelle Aussterberate rund 35-mal höher ist, als sie von Natur aus sein dürfte, wie die Forscher erklären. Demnach hätten die Gattungen, die wir in 500 Jahren verloren haben, unter menschenfreien Bedingungen eigentlich 18.000 Jahre gebraucht, um von der Bildfläche zu verschwinden. Und in der Zwischenzeit hätten sich wieder neue Lebewesen entwickeln können, die diesen Verlust ausgleichen, doch bei dem aktuellen Tempo ist das unmöglich.
Hinzu kommt: „Das derzeitige Aussterben von Gattungen wird sich in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich stark beschleunigen. Wenn alle heute gefährdeten Gattungen bis zum Jahr 2100 verschwinden würden, wäre die Aussterberate 354-mal höher als die Hintergrundrate“, berichten Ceballos und Ehrlich. Unter normalen Umständen würde ein solches Massensterben mindestens 106.000 Jahre brauchen, doch der Mensch könnte dies in wenigen Jahrhunderten bewirken.
Bedrohung auch für den Menschen
Auch für uns Menschen ist das Verschwinden derart vieler Gattungen eine Gefahr: „Dieses Massenaussterben verändert die gesamte Biosphäre und bringt sie möglicherweise in einen Zustand, in dem es für unsere derzeitige Zivilisation unmöglich ist, zu überleben“, betonen die Forscher. Der Gattungsschwund könnte demnach den Klimawandel verschärfen, die Verbreitung gefährlicher Krankheiten begünstigen und der Menschheit wichtiges naturbasiertes Wissen vorenthalten.
Als Beispiel nennen Ceballos und Ehrlich den ausgestorbenen Magenbrüterfrosch. Die Weibchen verschluckten einst ihre eigenen befruchteten Eier und zogen Kaulquappen in ihren Mägen auf, während sie ihre Magensäure „ausschalteten“. Anhand dieser Frösche hätten sich Medikamente gegen Sodbrennen und Speiseröhrenkrebs finden lassen können, doch mit den Fröschen ist auch das dafür benötigte Wissen verschwunden.
Politisches Handeln gefordert
Um zu verhindern, dass sich die Aussterberate weiter beschleunigt, fordern Ceballos und Ehrlich unverzüglich politisches, wirtschaftliches und soziales Handeln in beispiellosem Ausmaß. Besonderer Fokus solle dabei auf den Tropen liegen. Denn gerade dort gibt es aktuell zahlreiche Gattungen, die nur noch aus einer einzigen Art bestehen, wie die Forscher berichten. Stirbt die letzte vorhandene Art, stirbt die gesamte Gattung aus.
„Die Größe und das Wachstum der menschlichen Bevölkerung und das zunehmende Ausmaß ihres Verbrauchs sind allesamt wichtige Bestandteile des Problems“, so die beiden Forscher. „Die Vorstellung, dass man mit diesen Dingen weitermachen und die Artenvielfalt retten kann, ist verrückt“, sagt Ehrlich. „Das ist so, als ob man auf einem Ast sitzt und ihn gleichzeitig absägt.“ (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2023; doi: 10.1073/pnas.2306987120)
Quelle: Stanford University, Proceedings of the National Academy of Sciences