Überraschendes Erbe: Auch afrikanisch-stämmige Menschen tragen Neandertaler-DNA in ihrem Erbgut. Wie eine Studie zeigt, ist dieses genetische Erbe erstaunlich stark ausgeprägt – obwohl die Vorfahren heutiger Afrikaner geografisch isoliert von unseren Steinzeit-Cousins lebten. Verantwortlich für diesen Gentransfer scheinen Migrationen früher Europäer zurück nach Afrika zu sein. Damit zeichnet sich zudem ab: Auch wir Europäer könnten mehr Neandertaler-Relikte in unserem Genom besitzen als bisher angenommen.
Als unsere Vorfahren Afrika verließen, begann eine Geschichte der Seitensprünge: Nach ihrer Ankunft in Europa und Asien paarten sich einiger unserer Vorfahren mit den dort lebenden Neandertalern und zeugten Kinder mit ihnen. Durch diese Techtelmechtel haben unsere Steinzeit-Cousins bis heute Spuren in unserem Erbgut hinterlassen. Ein Großteil der vererbten DNA verschwand im Laufe der Zeit zwar wieder, doch einige Genabschnitte blieben über all die Jahrtausende erhalten und sind noch immer aktiv.
Wie viel Neandertaler aber steckt konkret in uns? Genetischen Analysen zufolge tragen Europäer rund zwei Prozent Neandertaler-DNA in ihrem Erbgut, Asiaten sogar noch mehr. Im Genom afrikanischer Menschen haben die Neandertaler der gängigen Annahme nach hingegen so gut wie gar keine Spuren hinterlassen. Schließlich lebten Neandertaler und Homo sapiens-Populationen aus Afrika geografisch isoliert voneinander.
Spurensuche im Genom
Ein Forscherteam um Lu Chen von der Princeton University berichtet nun jedoch, dass diese Annahme falsch ist: Offenbar tragen moderne Afrikaner sehr wohl eine deutliche Neandertaler-Signatur in ihrem Erbgut. Zu dieser überraschenden Erkenntnis kamen die Wissenschaftler dank einer neuen Methode.
Um Neandertaler-Erbgut in einem Genom zu identifizieren, wurde bislang das Erbgut bestimmter afrikanischer Bevölkerungsgruppen als Referenz genommen – Genome, die man für frei von Neandertaler-Spuren hielt. Chen und ihre Kollegen wählten nun einen anderen Ansatz: Sie nutzten kein modernes Referenzgenom, sondern verwendeten nur Merkmale bekannter Neandertaler-Sequenzen als Vergleich.
Erstaunlich viel Neandertaler-DNA
Konkret glichen die Forscher das urzeitliche Genom eines Neandertalers aus dem Altai-Gebirge mit dem Erbgut von 2.504 modernen Individuen unterschiedlicher Abstammung ab. Dabei berechneten sie, welche Ähnlichkeiten im Genom durch die gemeinsame Abstammung von Neandertaler und Homo sapiens erklärt werden können und welche dagegen auf Kreuzungsereignisse in jüngerer Vergangenheit zurückgehen müssen.
Es zeigte sich: Auch heute lebende Afrikaner haben einiges an Neandertaler-DNA geerbt. Im Schnitt besaßen die größtenteils nordafrikanischen Individuen aus der Stichprobe 17 Millionen Basenpaare mit solchen Wurzeln. Frühere Studien gingen dagegen von weniger als einer Million Basenpaaren aus, wie die Wissenschaftler berichten.
Gleichmäßig verteiltes Erbe
Interessant auch: Fast alle der im Erbgut der Afrikaner gefundenen Neandertaler-Gene haben sich auch bei ihren Verwandten aus anderen Kontinenten durchgesetzt. „Zum ersten Mal können wir nun die Neandertaler-Abstammung bei Afrikanern nachweisen. Und überraschenderweise ist dieses Signal deutlich stärker als gedacht“, konstatiert Chen.
Bei den Analysen zeichnete sich zudem ab, dass der Anteil des Neandertaler-Erbes bei den unterschiedlichen nicht-afrikanischen Populationen erstaunlicherweise nahezu gleich groß ist – er liegt zwischen 50 und 55 Millionen Basenpaaren pro Person. Ostasiatische Menschen haben demnach nur acht Prozent mehr DNA von den Neandertalern geerbt als Europäer. Bisherige Untersuchungen legten dagegen einen Unterschied von 20 Prozent nahe.
„Dies deutet darauf hin, dass ein Großteil der heute aktiven Neandertaler-Gene auf ein Kreuzungsereignis in einer Population zurückgeht, von der alle Nicht-Afrikaner abstammen“, sagt Chens Kollege Joshua Akey.
Rückwanderung als Erklärung
Doch wie kamen die Gene unserer Steinzeit-Cousins ins Erbgut afrikanischer Menschen? Wie die Forscher berichten, legen ihre Daten nahe, dass direkte Techtelmechtel zwischen Neandertalern und afrikanischen Homo sapiens nicht die Ursache waren. Stattdessen scheint die Rückkehr einiger früher Migranten Neandertaler-Erbgut nach Afrika gebracht zu haben.
Vor allem Vorfahren heutiger Europäer wanderten demnach immer mal wieder zurück auf den afrikanischen Kontinent. So lässt sich erklären, warum moderne Afrikaner mehr Neandertaler-Sequenzen mit Europäern als mit Ostasiaten teilen. „Dies bedeutet auch: Bisherige Methoden mit einem afrikanischen Referenzgenom unterschätzen das Neandertaler-Erbe bei Europäern stärker als bei Asiaten. Die Schätzungen sind verzerrt, weil Rückmigrationen europäischer Vorfahren nach Afrika nicht berücksichtigt wurden“, erklärt Akey.
Neandertaler erbte auch von uns
Doch Gene wurden nicht nur nach Afrika transportiert, sondern auch in die andere Richtung, wie die Analysen enthüllten. Lange vor der großen „Out-of-Africa“-Migrationswelle und ihren bekannten Kreuzungsfolgen kam es zu den ersten Wanderungen früher Homo sapiens aus Afrika heraus – und schon diese Menschen paarten sich laut den Ergebnissen offenbar mit Neandertalern.
Auf diese Weise gelangte bereits vor 100.000 bis 200.000 Jahren Homo sapiens-DNA ins Neandertaler-Erbgut. Sie wurde später als vermeintliches Neandertaler-Erbe weitergegeben und hat bis heute Spuren im Genom moderner Afrikaner hinterlassen, wie die Wissenschaftler berichten. „Damit zeigt sich wieder einmal, dass die Menschheitsgeschichte komplexer und interessanter ist als lange Zeit gedacht“, konstatiert Akey.
„Erbe lebt in allen weiter“
„Alles in allem enthüllen unsere Ergebnisse, dass Relikte von Neandertaler-Genomen in jeder Population moderner Menschen überlebt haben, die bisher untersucht wurde. Wahrscheinlich lebt das Erbe der Neandertaler in allen modernen Menschen weiter – das untermauert unsere gemeinsame Geschichte“, so das Fazit der Forscher.
In Zukunft wollen sie ihre neue Methode auf weitere afrikanische Populationen anwenden, um noch mehr über die Spuren herauszufinden, die unsere Steinzeit-Cousins im Genom der Afrikaner hinterlassen haben. Dabei interessiert sie auch die Frage, welche Rolle diese geerbten Gene für Gesundheit und Krankheit spielen. (Cell, 2020; doi: 10.1016/j.cell.2020.01.012)
Quelle: Cell Press/ Princeton University