Bei einem Schiffsuntergang gilt gnadenlos das Recht des Stärkeren. Die nautische Regel „Frauen und Kinder zuerst“ bleibt dagegen im Ernstfall auf der Strecke. Das zeigt die erste systematische Auswertung von Schiffskatastrophen der letzten 300 Jahre durch schwedische Forscher. Demnach ergattern Frauen nur halb so häufig einen Platz im Rettungsboot wie ihre männlichen Mitpassagiere. Kinder haben die geringsten Überlebenschancen. Die bevorzugte Rettung von Frauen und Kindern gelte zwar als ungeschriebenes Gesetz der Seefahrt. Im Ernstfall aber herrsche eher das Motto: „Jeder sorge für sich selbst zuerst“, konstatieren die Wissenschaftler im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“. Die größten Überlebenschancen bei einem Untergang hätten diejenigen, die am besten mit dem Schiff und den Notfallmaßnahmen vertraut seien: die Besatzung.
„Lange Zeit galt der Untergang der Titanic am 12. April 1912 als Musterbeispiel für Ritterlichkeit auf See“, schreiben Mikael Elinder und Oscar Erixson von der schwedischen Uppsala Universität. Bei dem damaligen Unglück seien 70 Prozent der Frauen und Kinder an Bord gerettet worden, aber nur 20 Prozent der Männer. Die soziale Norm, nach denen die Starken zuerst den Schwächeren helfen sollten, sei hier tatsächlich umgesetzt worden. Jetzt zeige sich, dass die Titanic eine Ausnahme gewesen sei, sagen die Forscher.
Schicksal von 15.000 Passagieren untersucht
Für ihre Studie hatten die Forscher 18 Schiffsuntergänge von 1852 bis 2011 untersucht. Insgesamt erfassten sie damit das Schicksal von 15.000 Passagieren aus 30 Ländern. Unter den Unglücken war neben der Titanic unter anderem die RMS Lusitania, die 1915 von einem Torpedo getroffen wurde und innerhalb von 20 Minuten mit 1.190 Menschen an Bord sank. Beispiele aus neuerer Zeit waren die Estonia, die 1994 in der Ostsee versank und 852 Menschen mit in den Tod nahm, die 2008 vor den Philippinen gesunkene Fähre Princess of the Stars und 2011 der Untergang der MV Bulgaria auf der Wolga.
Bei allen Untergängen werteten die Forscher die Zahl der Männer, Frauen und Kinder unter den Passagieren aus und ermittelten deren jeweilige Überlebensrate. Zudem prüften sie, wie viele Besatzungsmitglieder überlebten. Dabei zeigte sich, dass auch die nautische Regel: „Der Kapitän verlässt als Letzter das sinkende Schiff“ im Ernstfall meist mit über Bord geht. Ähnlich wie die Besatzung habe auch der Kapitän bessere Überlebenschancen als die Passagiere, sagen die Forscher. Nur in der Hälfte der Fälle sei er unter den Todesopfern gewesen.
„Schiffsunglücke sind ein gutes Modell dafür, wie Menschen handeln, wenn es um Leben und Tod geht“, schreiben Elinder und Erixson. Man könne daran testen, ob soziale Normen wie der Schutz der Schwächeren oder die gegenseitige Hilfe in diesen Extremsituationen standhielten. Die Studie zeige, dass dies meist nicht der Fall sei. Wie die Wissenschaftler berichten, stimmt dies mit dem überein, was andere Studien für Naturkatastrophen ermittelt haben. Auch dabei sei die Überlebensrate für Frauen weit geringer als für Männer.
Die beiden Forscher hatten ihre Ergebnisse bereits im April 2012 in einem inoffiziellen „Working paper“ auf ihrer Instituts-Website veröffentlicht, erst jetzt aber erscheint die Studie von Gutachtern geprüft in einem Fachjournal und gilt damit offiziell als wissenschaftliche Veröffentlichung. (doi:10.1073/pnas.1207156109)
(Proceedings of the National Academy of Sciences, 31.07.2012 – NPO)