Wie viele Detektoren brauchen wir, um Bewegungen wahrzunehmen? Eine Antwort auf diese seit mehr als 50 Jahren diskutierte Frage haben jetzt deutsche Neurowissenschaftler mit Hilfe von Experimenten an Fruchtfliegen gefunden. Sie stellten fest, dass die Interaktion von nur zwei Zelltypen ausreicht, um eine Bewegung zu erkennen.
In unserer Wahrnehmung hebt sich ein Objekt oder Tier oft erst dann vom Hintergrund ab und wird sichtbar, wenn es sich bewegt. Das liegt daran, dass wir uns stark auf unsere Augen zur Orientierung verlassen und das Erkennen von Bewegungen besonders gut ausgeprägt ist. Doch was genau passiert dabei im Gehirn? Wie sind die Nervenzellen verschaltet, damit Bewegungen als solche wahrgenommen werden? Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried haben nun herausgefunden, dass dazu im Gehirn der Fruchtfliege Drosophila nur zwei verschiedene Zelltypen als Bewegungsdetektoren nötig sind.
Fliege und Mensch – kein großer Unterschied
Das Gehirn der Fruchtfliege misst zwar weniger als einen halben Millimeter, doch es ist äußerst effizient und mit seinen rund hunderttausend Nervenzellen relativ „überschaubar“. So scheint es den Wissenschaftlern hier möglich, die Nervenzell-Schaltkreise des Bewegungssehens in ihre Bestandteile zu zerlegen. Das ist auch für den Menschen interessant, denn so groß ist der Unterschied zwischen Mensch und Fruchtfliege gar nicht.
Erst vor kurzem konnten die Martinsrieder Wissenschaftler zeigen, dass Fruchtfliegen optische Informationen ganz ähnlich verarbeiten, wie alle bisher untersuchten Wirbeltiere: Informationen werden gleich nach den Fotorezeptoren in verschiedene Bildkanäle aufgespalten. Während die Fotorezeptoren jede Lichtveränderung wahrnehmen, leiten einzelne Nervenzellen der nächsten Schicht nur noch „Licht-an“ (ON) oder „Licht-aus“ (OFF) Veränderungen weiter. Doch wie ist es möglich, hieraus Bewegungen zu errechnen?
Leuchtreklame im Fliegenkino
Um dem Bewegungssehen auf den Grund zu kommen, täuschten die Neurobiologen die Fliegenwahrnehmung mit einer Scheinbewegung. In einer Art Fliegenkino sahen die Tiere nacheinander erst einen und dann einen zweiten Streifen aufblitzen oder dunkler werden. Jeder, der zum Beispiel schon einmal die laufenden Leuchtreklamen am New Yorker Times Square gesehen hat, weiß, dass durch das aufeinanderfolgende An- und Ausschalten von stationären Lampen der Eindruck einer Bewegung entsteht. Das ist auch für Fliegen nicht anders.
Die Wissenschaftler wählten die Breite der Streifen im Fliegenkino so aus, dass jeweils nur wenige Fotorezeptoren auf das Gesehene reagierten. Die Fliege sieht eine Scheinbewegung, wenn erst ein Fotorezeptor und dann der daneben liegende eine ON- oder eine OFF-Lichtveränderung wahrnimmt. So würden OFF-OFF-Impulse zum Beispiel das Vorbeiziehen einer dunklen Kante anzeigen. Was passiert jedoch, wenn die benachbarten Fotorezeptoren ON-OFF oder OFF-ON-Veränderungen melden? Wird diese Bewegung von zwei Bewegungsdetektoren (einer für ON-ON und einer für OFF-OFF) oder von vier Detektoren – einem für jede Kombination – errechnet?
Die Aufgabe klingt fast zu kompliziert für nur zwei Nervenzell-Detektoren. Auf der anderen Seite ist der Aufbau und die Versorgung von vier Schaltkreisen kostspieliger als von zweien, sodass zwei Bewegungsdetektoren von der Evolution bevorzugt werden sollten – wenn es denn machbar ist. Um dies herauszufinden, zeichneten die Neuro-biologen die elektrischen Antworten der auf Bewegungen reagierenden Nervenzellen auf, während die Fliege die sich „bewegenden“ Streifen im Fliegenkino sah. Zusätzlich führten sie vielfältige Computersimulationen zur Vorhersage und Analyse der Ergebnisse durch.
Nur zwei Zellen
All diese Untersuchungen brachten ein eindeutiges Ergebnis: Die aufgetrennten Informationen über ON- und OFF- Kontrastveränderungen fließen in nur zwei Bewegungsdetektoren. „Dieses Ergebnis ist ein Durchbruch, denn seit rund 50 Jahren diskutieren Wissenschaftler darüber, wie viele Detektoren notwendig sind, um Bewegungen zu erkennen“, freut sich Hubert Eichner über die Aussage seiner Studie.
Nachdem die Anzahl der Bewegungsdetektoren nun geklärt ist, können die Neurobiologen gezielt nach den Zellen suchen, aus denen diese beiden Detektoren bestehen. „Und wir wissen auch schon ziemlich genau, wo wir diese finden können“, so Alexander Borst. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Gehirnanalyse dieser Fliegenwinzlinge in Zukunft dazu beiträgt, dass wir auch unsere eigene Wahrnehmung von Bewegungen besser verstehen. (Neuron, 2011; DOI: 10.1016/j.neuron.2011.03.028)
(Max-Planck-Institut für Neurobiologie, 27.06.2011 – NPO)