Neuer Rekord: Forscher haben das bisher größte mitochondriale Erbgut im Tierreich entdeckt – bei einer Zylinderrose, einem Nesseltier. Das Genmaterial aus den Kraftwerken der Zellen umfasst bei dem mit Quallen und Korallen verwandten Meeresbewohner ganze 80.923 Basenpaare. Damit ist es fast fünfmal umfangreicher als das menschliche Mitogenom, wie das Team im Fachmagazin „Scientific Reports“ berichtet.
Sie sehen aus wie prähistorische Blumen, sind aber tierische Wesen: Die Zylinderrosen (Ceriantharia) leben sowohl in tropischen Ozeanen als auch in den Meeren der gemäßigten Breiten und gehören wie Korallen und Quallen zu den Nesseltieren. „Innerhalb dieses Stammes sind die Ceriantharia bis heute die rätselhaftesten, was ihre phylogenetische Einordnung angeht“, erklären Sérgio Stampar von der Universität Estadual Paulista in Sao Paulo und seine Kollegen.
Mitochondriale DNA im Blick
An welcher Position im Stammbaum stehen diese Vertreter der Blumentiere? Um mehr darüber herauszufinden, haben die Forscher nun das mitochondriale Genom zweier Zylinderrosen-Arten sequenziert. Dieser Teil des Erbguts liegt nicht im Zellkern, sondern in den Kraftwerken der Zelle, den Mitochondrien. „Sequenz- und Strukturanalysen dieses Genmaterials haben in der Vergangenheit bereits entscheidend dazu beigetragen, die Verwandtschaftsverhältnisse unter Nesseltieren zu klären“, berichtet das Team.
Für ihre Studie nahmen Stampar und seine Kollegen DNA-Proben von der Gebänderten Zylinderrose Isarachnanthus nocturnus sowie der Spezies Pachycerianthus magnus. Dieses Unterfangen war keine einfache Übung: Sobald sie Gefahr wittern, ziehen sich Zylinderrosen in ihre aus Sand, Schleim und ausgestoßenen Nesselkapseln gebaute Wohnröhre zurück. „Deshalb muss man die Tiere unter Wasser regelrecht ausgraben“, erklärt Stampar.
Ein überraschender Rekord
Doch der Aufwand war es wert, denn die Analyse des mitochondrialen Erbguts förderte eine echte Überraschung zutage: Mit 80.923 Basenpaaren entpuppte sich das Genom der Gebänderten Zylinderrose als das größte Mitogenom eines Tieres, das jemals sequenziert wurde. Zum Vergleich: In unseren Mitochondrien befinden sich lediglich Erbinformationen mit einem Umfang von 16.569 Basenpaaren.
Das Mitogenom dieses nur 15 Zentimeter langen Blumentieres ist somit fast fünfmal größer als das menschliche. „Wir neigen zu der Annahme, dass wir auf molekularer Ebene komplexer sein müssen als solche eher simplen Tiere. Tatsächlich aber hat unser Genom im Laufe der Evolution mehr Filterprozesse durchlaufen“, sagt Stampar. Ein derart riesiges Erbgut beizubehalten, bedeute einen womöglich nachteiligen Energieaufwand für die Zylinderrosen.
Linear statt zirkulär
Der Größenrekord war allerdings nicht das einzige spannende Ergebnis der Untersuchungen. So stellte sich heraus: Anders als bei vielen anderen Blumentierarten und auch beim Menschen liegt das mitochondriale Genom der beiden untersuchten Spezies nicht in Form zirkulärer DNA vor. Stattdessen scheint es aus einer Reihe linearer Fragmente zu bestehen – genau wie bei manchen Quallenarten.
Interessant auch: Obwohl Isarachnanthus nocturnus und Pachycerianthus magnus nach gängiger Annahme eng miteinander verwandt sind, unterscheidet sich ihr Mitogenom in etlichen Punkten deutlich voneinander. „Menschen und Knochenfische haben mehr Gemeinsamkeiten in Bezug auf ihre mitochondriale DNA als diese beiden Zylinderrosenarten“, konstatiert Stampar.
Fokus auf den Zellkern
Diese neuen Erkenntnisse könnten in Zukunft dabei helfen, die verwandtschaftliche Beziehung zwischen den Zylinderrosen und anderen Nesseltieren genauer zu entschlüsseln. Schon jetzt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass diese Tiere womöglich mehr Gemeinsamkeiten mit einigen Quallenarten besitzen als bisher gedacht.
Für eine genaue Einordnung sind jedoch zunächst weitere Daten nötig, wie die Wissenschaftler betonen. Aus diesem Grund wollen sie sich in einem nächsten Schritt dem anderen Teil des Genoms der Zylinderrosen widmen – dem im Zellkern. Sie planen, diese Gensequenz bis Ende dieses Jahres vollständig zu entschlüsseln. Vielleicht lässt sich das Rätsel um die blumengleichen Wesen dann endlich lüften. (Scientific Reports, 2019; doi: 10.1038/s41598-019-42621-z)
Quelle: Fundação de Amparo à Pesquisa do Estado de São Paulo