Unterschätzte Fülle: Der größte Teil der irdischen Artenvielfalt verbirgt sich unter unseren Füßen – im Boden. Denn wie Forschende ermittelt haben, könnten knapp 59 Prozent aller bekannten Spezies – von der Mikrobe über Wirbellose und Pflanzen bis zum Säugetier – in der Bodenschicht unseres Planeten leben. Er ist damit der artenreichste Lebensraum der Erde. Den höchsten Anteil an bodenlebenden Arten haben Würmer und Pilze, die größte absolute Zahl bodenlebender Arten haben jedoch Bakterien und virale Bakteriophagen.
Wenn es um Hotspots der Artenvielfalt geht, werden meist Regenwälder, Korallenriffe oder andere irdische Lebensräume genannt. Doch dabei wird ein Habitat meist vergessen: der Boden. Diese Schicht zwischen Felsuntergrund und Oberfläche beherbergt eine Vielzahl von Organismen und spielt eine wichtige Rolle für die Stoffkreisläufe unseres Planeten. Der Boden speichert große Mengen an organischer Substanz, gleichzeitig setzt deren mikrobieller Abbau große Mengen an Klimagasen wie Kohlendioxid und Methan frei.
„Volkszählung“ unter der Erde
Doch wie viele Organismen im Boden leben und welchen Anteil sie an der gesamten Artenvielfalt haben, ist bisher kaum untersucht. Eine frühere Schätzung, die aber nur bodenlebende Tierarten umfasste, kam auf einen Anteil von rund einem Viertel an der irdischen Biodiversität. Dabei blieben allerdings Mikroorganismen, Viren, Pilze und Pflanzen außen vor. „Unsere Arbeit ist nun ein erster, aber wichtiger Versuch abzuschätzen, welcher Anteil der globalen Artenvielfalt im Boden lebt“, sagt Erstautor Mark Anthony von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL.
Für ihre Bestandsaufnahme haben Anthony und sein Team zunächst Daten zur Gesamtartenzahl der großen Organismengruppen zusammengetragen – vom kleinsten Bakterium bis zum Baum oder Säugetier. Dabei bezogen sie bewusst auch Hochrechnungen und Schätzwerte mit ein. „Wenn wir nur die bekannten Arten aller Gruppen miteinbeziehen würden, dann würde uns die große Mehrheit der kleinen und verborgenen Lebensformen – beispielsweise bei den Arthropoden, Nematoden, Pilzen, Protisten, Bakterien, Archaeen oder Viren – entgehen“, erklären die Forschenden.
Ausgehend von diesen Gesamtzahlen ermittelten sie anhand der bekannten Lebensweisen für jede Gruppe des Stammbaums den ungefähren Anteil der im oder auf dem Boden lebenden Spezies. Dabei zählten die Wissenschaftler auch die Arten dazu, die nur einen Teil ihres Lebenszyklus im Boden verbringen.
Mehr Arten als irgendwo sonst
Das Ergebnis: Im Mittel leben mehr als zehn Milliarden irdische Spezies entweder ganz oder teilweise im Boden – Viren wie die Bakteriophagen noch nicht mit eingerechnet. Setzt man dies ins Verhältnis zur möglichen Gesamtartenzahl auf der Erde, entspricht dies rund 58,5 Prozent aller Spezies, wie Anthony und sein Team berichten. Damit könnte die Artenvielfalt im Boden höher sein als in jedem anderen Lebensraum unseres Planeten.
„Unsere Resultate demonstrieren, dass der Boden das artenreichste Habitat der Erde ist“, konstatieren Anthony und seine Kollegen. Die neuen Werte übertreffen die bisherigen Schätzungen um fast Doppelte und selbst sie könnten noch zu niedrig sein: „Tatsächlich sind unsere Werte wahrscheinlich sogar eher eine Unterschätzung für viele Gruppen, weil die überirdische Lebenswelt bisher weit besser untersucht ist als die im Boden“, so das Team.
Höchster Anteil bei den Pilzen, niedrigster bei den Säugetieren
Der Anteil bodenlebender Arten ist jedoch bei den einzelnen Organismengruppen sehr unterschiedlich. Unter den Arthropoden, einer der artenreichsten Tiergruppe der Erde, liegt der Anteil bodenlebender Arten bei rund 30 Prozent. Bei den Fadenwürmern (Nematoda) kommen die Forschenden auf rund 43 Prozent. Deutlich geringer ist der Anteil bodenlebender Spezies bei den Mollusken mit 20 Prozent und den Säugetieren mit nur 3,8 Prozent.
Die mit Abstand am stärksten an das Leben im Boden angepasste Großgruppe im Stammbaum sind jedoch die Pilze: Von den mehr als sechs Millionen Pilzarten leben rund 90 Prozent am und im Boden. Doch auch die meisten Pflanzen zählen zu den Bodenbewohnern: Immerhin bis zu 67 Prozent ihrer Biomasse liegt in Form von Wurzeln und Knollen unter der Erde, außerdem keimen die Samen bis zum Auftauchen der Jungpflanzen aus dem Boden im Untergrund. Anthony und sein Team stufen deshalb rund 470.000 Pflanzenarten zumindest teilweise als Bodenleben ein – dies entspricht rund 85 Prozent aller Pflanzenspezies.
Hohe Dunkelziffer bei Bakterien, Archaeen und Viren
Deutlich schwerer zu erfassen waren die Artenzahlen und Anteile der Bakterien, Archaeen und Viren, wie das Team erklärt. Denn von diesen Gruppen ist bisher erst ein Bruchteil der wahren Vielfalt bekannt, außerdem ist die Abgrenzung der Arten oft schwierig. Basierend auf genetischen Studien schätzen die Forschenden den Anteil der bodenlebenden Bakterien auf rund 43 Prozent, die Spanne reicht aber von 22 bis 89 Prozent. Bei den Archaeen liegt der Anteil bei rund 19 Prozent, hier reicht die Spanne von zehn bis 28 Prozent.
Ungeachtet dieser Unsicherheiten sei der Boden damit ein enormes Reservoir für bakterielle Vielfalt“, konstatieren Anthony und sein Team. „Unsere Schätzungen nach ist der Anteil bodenlebender Bakterienarten höher als in jedem anderen bakterienreichen Ökosystemtyp, darunter der Meeresboden und das Wasser, und auch in Wirtsorganismen wie Insekten oder dem Menschen.“
Bei den Viren werden die Schätzungen dadurch erschwert, dass es sich nicht um Lebensformen handelt und daher auch gängige Artdefinition nicht greift. Hinzu kommt, dass die Dunkelziffer der noch unentdeckten und nicht erkannten Viren größer ist als bei jeder anderen Lebensform. Ausgehend von der Annahme, dass die meisten Viren im Boden wahrscheinlich Bakteriophagen sind, schätzen die Wissenschaftler den Anteil der Phagenarten im Boden auf sechs bis 43 Prozent.
Unterschätzter Teil der Lebenswelt
Insgesamt unterstreichen diese Ergebnisse, dass der Boden ein bedeutender Lebensraum unseres Planeten ist – der aber oft übersehen wird. So finden sich bodenlebende Organismen weit seltener in Roten Listen wieder und auch bei Artenschutzbemühungen fallen sie oft durch das Raster, wie die Wissenschaftler erklären. „Unsere Studie zeigt nun, dass die Vielfalt in den Böden groß und entsprechend wichtig ist und sie somit im Naturschutz viel stärker berücksichtigt werden sollte“, sagt Anthony.
Dies sei vor allem deshalb wichtig, weil gerade der Lebensraum Boden besonders stark durch menschliche Eingriffe beeinträchtigt sei. „Die Böden stehen enorm unter Druck, sei es durch landwirtschaftliche Intensivierung, den Klimawandel, invasive Arten und vieles mehr“, sagt Anthony. Er und sein Team hoffen daher, dass sie mit ihrer – wenngleich noch zwangsläufig lückenhaften und ungenauen – Bestandsaufnahme einen Beitrag dazu leisten, den Boden stärker in den Fokus zu rücken. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2023; doi: 10.1073/pnas.2304663120)
Quelle: Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL