Neurobiologie

Broca-Sprachzentrum viel komplexer als gedacht

Interaktion einer Vielzahl von bisher unbekannten Arealen entdeckt

Sprachzentren im Gehirn © gemeinfrei

Bisherige Vorstellungen über die neuroanatomische Grundlage der Sprache müssen nun revisiert werden. Denn Forscher haben jetzt herausgefunden, dass unser Sprachzentrum, die Broca-Region, nicht nur aus zwei Arealen besteht, wie bisher angenommen, sondern aus einer Vielzahl von bisher unbekannten Teilgebieten. Deren molekularen Merkmale weisen auf unterschiedliche motorische, kognitive und zum Teil noch nicht näher bekannte Funktionen hin, berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin „PLoS Biology“.

Die Broca-Region unseres Gehirns gilt seit ihrer Entdeckung im Jahre 1861 als eine der beiden, für die Sprachfähigkeit entscheidenden Hirnrindenregionen. Hier ist etwa die Fähigkeit verankert, Laute und Worte zu bilden. Nach der noch heute gebräuchlichen Hirnrindenkartierung Korbinian Brodmanns besteht die Region aus zwei Arealen. Seit einigen Jahren wird diese Einteilung aber von Forschern infrage gestellt – der Grund sind klinische Erfahrungen und die Ergebnisse bildgebender Analysen mit der funktionellen Magnetresonanztomografie.

„Schädigungen in der Broca-Region können über ein Dutzend verschiedener Sprachstörungen zur Folge haben“, erklärt Professor Katrin Amunts, Hirnforscherin am Forschungszentrum Jülich und Erstautorin der Studie. „Zum Beispiel in der Artikulation, aber auch im Verständnis oder der Grammatik, wie linguistische Untersuchungen zeigen. Das spricht für ein viel komplexer strukturiertes Sprachzentrum als bisher gedacht.“

Viel mehr als nur zwei Areale

Um diese Widersprüche aufzuklären, haben die Wissenschaftler um Amunts nun die Zellarchitektur sowie die Verteilung verschiedener Rezeptoren in der Broca-Region näher unter die Lupe genommen. Rezeptormoleküle sind entscheidend für die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen – und können daher helfen, strukturell ähnliche Bereiche weiter aufzuschlüsseln. Denn ist die Verteilung der Rezeptoren in diesen Regionen unterschiedlich, so sind es auch die Funktionen des Gehirns an diesen Stellen.

„Wir haben herausgefunden, dass die Broca-Region nicht nur aus zwei, sondern aus einer Vielzahl von Arealen besteht, die ein hochdifferenziertes Mosaik bilden“, sagt Professor Karl Zilles, Mitautor dieser Studie. „Es ist eine komplexe Welt, die unserer Sprachfähigkeit gewidmet ist.“ So zeigt die Untersuchung beispielsweise eine deutlich unterschiedliche Verteilung eines Rezeptors zwischen den Broca-Regionen der beiden Hirnhälften und geringere Unterschiede bei anderen Rezeptoren.

Wechselwirkungen der Areale noch unklar

Ob dies die molekulare Grundlage für die unterschiedlichen klinischen Befunde ist, die sich bei Patienten mit Schädigungen der Broca-Region nur in der linken oder nur in der rechten Gehirnhälfte beobachten lässt, müssen weitere Untersuchungen klären. Im ersten Fall verlieren die Patienten ihre Sprechfähigkeit vollständig. Im zweiten Fall können sie korrekt artikulieren, aber die Sprachmelodie fehlt.

„Es ist eine Aufgabe für die Zukunft, die neue Organisation der Broca-Region funktionell genauer zu analysieren und die Interaktion der bisher unbekannten Areale zu untersuchen“, sagt Amunts. Ein anderes Projekt läuft bereits: die Untersuchung der zweiten, für die Sprachfähigkeit entscheidenden Großregion des Gehirns, des Wernicke-Areals. Hier soll nach bisheriger Anschauung das Sprachverständnis ermöglicht werden.

Die vorliegende Entdeckung zahlreicher molekular und zellulär unterschiedlicher Hirnrindenareale in der Broca’schen Sprachregion und unmittelbar angrenzenden Bereichen zeigt, dass unser Sprachvermögen in einer deutlich differenzierter ausgebildeten Hirnlandschaft beheimatet ist, als man es sich fast 150 Jahre lang vorgestellt hat. Die Ergebnisse sind nicht nur für die Sprachforschung und die Diagnostik und Therapie bei Schlaganfällen von Bedeutung, sondern verändern die neurobiologische Basis für aktuelle Diskussionen über Sprachentstehung während der Evolution, Spracherziehung und Sprachstörungen.

(Forschungszentrum Jülich, 22.09.2010 – NPO)

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