Mysteriöser Lebensbaustein: Nach gängiger Lehrmeinung sind 20 Aminosäuren unverzichtbar – doch es gibt noch eine 21., das Selenocystein. Sie wird von fast allen Wirbeltieren und vielen weiteren Lebewesen benötigt und produziert. Merkwürdig nur: Für sie existiert im Erbgut der Organismen kein eigener DNA-Code. Warum das so ist, ist bislang rätselhaft. Jetzt haben Genanalysen bei Pilzen neue Einblicke in die mögliche Evolution dieser 21. Aminosäure geliefert.
In unserem Erbgut sind die Bauanleitungen für Aminosäuren jeweils als Basencode aus drei „Buchstaben“ codiert. Insgesamt existieren 61 solcher Codons für 20 verschiedene Aminosäuren, dazu drei Stoppcodons, die an passender Stelle das Ablesen des Codes abbrechen. Lange galten deshalb nur diese 20 Aminosäuren als essenziell – für das Funktionieren des Stoffwechsels unverzichtbar.
Aminosäure-Produktion auf Umwegen
Doch inzwischen ist klar, dass wir Menschen, viele Tiergruppen und einige Algen und Einzeller noch eine 21. Aminosäure benötigen, das Selenocystein. Um sie trotz fehlendem Codon herzustellen, wird in einem aufwändigen Prozess mithilfe von Enzymen und der RNA ein Stoppcodon umfunktioniert. „Das UGA, normalerweise ein Stoppcodon, wird über einen ungewöhnlichen Recoding-Mechanismus dann als Sec ausgelesen“, erklären Marco Mariotti von der Harvard Medical School in Boston und seine Kollegen.
Merkwürdig nur: Wenn diese 21. Aminosäure für so viele Lebewesen essenziell ist, warum hat die Natur dann nicht gleich ein eigenes Codon dafür geschaffen? Und warum wird das Selenocystein nicht von allen Organismen produziert? Denn selbst innerhalb einiger Tiergruppen wie den Insekten oder Nematoden besitzen einige Vertreter diese Maschinerie, andere dagegen nicht. Bisher ist daher unklar, ob die Fähigkeit, Selenocystein herzustellen, vielfach parallel entwickelt oder aber parallel verloren wurde.