Stress in der Schwangerschaft kann das spätere Verhalten des ungeborenen Kindes nachhaltig beeinflussen und beispielsweise geschlechtsuntypisches Verhalten auslösen. Verhaltensbiologen vermuten jedoch, dass es sich dabei nicht um eine Anormalität, sondern um eine sinnvolle Anpassung handelt. Bei wilden Meerschweinen könnten solche „Abweichler“ immer dann profitieren, wenn es eng wird im Bau.
Männlich oder weiblich? Bei einem Meerschweinchen ist das nicht auf den ersten Blick erkennbar. Es sei denn, es balzt. Dann ist es ein Männchen – meistens. Es kann aber auch ein Weibchen sein, dessen Mutter während der Schwangerschaft sozialem Stress ausgesetzt war. Dann haben die Töchter körperliche Besonderheiten wie einen erhöhten Spiegel männlicher Hormone im Blut und zeigen Balzverhalten. Auch beim Menschen gibt es die Vermutung, das vorgeburtliche Einflüsse unser späteres Verhalten beeinflussen. Warum dies so ist, war bisher allerdings unklar. Ebenso, ob dies einen Vor- oder Nachteil darstellt.
Vorgeburtlicher Stress verändert auch Meerschwein-Verhalten
Ein Forscherteam der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster um den Verhaltensbiologen Professor Norbert Sachser und seine Kollegin Sylvia Kaiser untersucht nun solche kurzfristigen Anpassungen, wie sie beispielsweise durch die Lebensumstände der Mutter während der Schwangerschaft festgelegt werden. Ihr Forschungsobjekt: Meerschweinchen. „Vorgeburtlicher Stress kann bei Meerschweinchen und anderen Tieren ebenso wie beim Menschen die Entwicklung beeinflussen“, erklärt Sachser.
„Bislang ging man davon aus, dass solche Verhaltensänderungen Abweichungen von der Norm darstellen oder gar krankhaft sind“, so der Forscher weiter. „Wir fragen uns nun: Können sie auch eine Anpassung an die Umwelt sein?“ Die Forscher sind der Ansicht, dass neben der evolutionären Anpassung durch Selektion über Generationen auch solche kurzfristigen Einflüsse der optimalen Anpassung an die Lebensumstände dienen.
Wenn es eng wird, sind „vermännlichte“ Weibchen im Vorteil
Unter bestimmten Umständen, so ihre These, könnte sich die Abweichung von der Norm sogar als Vorteil erweisen. „In stabilen kleineren Meerschweinchengruppen bekommen Weibchen, die sich typisch weiblich verhalten, mehr Nachwuchs“, so Sylvia Kaiser. „Dagegen könnten in sehr großen Gruppen, in denen die Sozialpartner häufig wechseln, die durchsetzungsstärkeren ‚vermännlichten‘ Weibchen einen Vorteil haben und sich besser fortpflanzen.“
Sachser ergänzt: „In der Natur schwankt die Populationsdichte von Wildmeerschweinchen stark. Wir vermuten, dass eine Meerschweinchenmutter, die während der Schwangerschaft in einer großen, instabilen Gruppe lebt, ihre Töchter auf genau diese Lebensbedingungen optimal vorbereitet. Die Vermännlichung wäre dann eine Anpassung, kein Fehlverhalten.“
Männchen: Kuscheln als Strategie gegen dominante Machos
Auch die Söhne von gestressten Müttern verhalten sich anders als ihre Artgenossen. „Während andere Meerschweinchen mit der Pubertät Balzverhalten und Dominanzgebaren an den Tag legen, um möglichst viele Weibchen für sich zu gewinnen, haben diese Männchen eine verzögerte Entwicklung. Sie kuscheln gern und verhalten sich, als wären sie noch nicht geschlechtsreif“, so Sachser.
Was klingt, als könnten die Tiere mit den „richtigen Männern“ in der Gruppe nicht mithalten, könnte sich als Vorteil entpuppen – zumindest solange sie wie ihre Mütter in einer großen Gruppe mit vielen dominanten älteren Männchen leben. Denn die jungen Männchen warten, bis ihre Chance gekommen ist. Erst wenn sie körperlich in der Lage sind, mit den „Platzhirschen“ um die Weibchen zu konkurrieren, zeigen sie Werbeverhalten. Vorher vermeiden sie aussichtslose Auseinandersetzungen.
Überprüfung an verschiedenne Tierarten
Gemeinsam mit Wissenschaftlern in Potsdam und Bielefeld, von wo aus das Projekt koordiniert wird, wollen die Münsteraner ihre Hypothesen nun überprüfen. Dazu untersucht die Forschergruppe nicht nur Meerschweinchen, sondern auch Wühlmäuse, Zebrafinken, Blattkäfer und Wachsmotten. Neben der Phase vor der Geburt interessieren sich die münsterschen Forscher noch für einen anderen sensiblen Zeitraum: die Pubertät.“Hier wird noch einmal ’nachjustiert‘. Die Tiere entwickeln in dieser Phase ein Verhalten, das angesichts der gegebenen Umstände einen maximalen Fortpflanzungserfolg garantiert“, vermutet Sachser.
(Westfaelische Wilhelms-Universität Münster, 18.02.2010 – NPO)