Ökologie

Droht dem Nordpolarmeer die Quallen-Invasion?

Klimawandel begünstigt ökologisch folgenreiche "Verquallung" des Arktischen Ozeans

FEuerqualle
Die Feuerqualle Cyanea capillata könnte sich künftig auch bis in den Arktischen Ozean ausbreiten – mit potenziell dramatischen Folgen. © Joan J. Soto-Angel

Glibbrige Dominanz: Dem Nordpolarmeer könnte eine schleichende „Verquallung“ drohen, warnen Meeresforscher. Denn durch den Klimawandel breiten sich viele Quallenarten nordwärts aus – darunter auch die räuberische Feuerqualle. Datengestützte Simulationen zeigen, dass dies die Lebenswelt im Arktischen Ozean dramatisch verändern könnte. Denn für den Dorsch und andere Fischarten des hohen Nordens sind die Quallen eine meist überlegene Konkurrenz, wie die Forschenden berichten.

Quallen sind echte Anpassungskünstler: Sie profitieren oft gerade dann, wenn die Meereswelt durch Erwärmung, Überdüngung oder Überfischung aus dem Gleichgewicht gerät. Dadurch gibt es immer häufiger Massenvermehrungen von Quallen in verschiedenen Meeresgebieten. In der Ostsee hat die Erwärmung des Meeres bereits zur rasanten Ausbreitung der invasiven Rippenqualle Mnemiopsis leidyi geführt, die als gefürchteter „Fischkiller“ gilt. Auch die nordamerikanische Quallenart Blackfordia virginica breitet sich dort zurzeit aus.

Melonenquallen
Die zu den Rippenquallen gehörende Melonenqualle (Beroe sp.) kommt auch bei uns vor, könnte sich aber künftig bis in das Nordpolarmeer ausbreiten. © Joan J. Soto-Angel

Fische haben gegen Quallen kaum eine Chance

Das Problem: Quallen setzen sich oft so erfolgreich durch, dass sich ganze Nahrungsnetze im Ozean verschieben – es droht eine „Verquallung“ der Meere. Vor allem Fische haben dann das Nachsehen: “ Die Nesseltiere können sich oft gegen Nahrungskonkurrenten wie Fische durchsetzen. Das hat dann wiederum Folgen für das ganze Nahrungsnetz“, erklärt Erstautor Dmitrii Pantiukhin vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Viele Quallen ernähren sich zudem von Fischlarven und Eiern und verzögern oder verhindern so eine Erholung von unter Druck geratenen Fischpopulationen.“

Diese drohende Dominanz der Quallen wäre vor allem für das ohnehin sensible Ökosystem des Arktischen Ozeans eine massive Bedrohung. Denn das Nordpolarmeer erwärmt sich rund viermal schneller als der globale Durchschnitt und ist zusätzlich durch schwindendes Meereis, zunehmende Schichtung und veränderte Strömungsmuster belastet. Deshalb haben Pantiukhin und seine AWI-Kollegen untersucht, welche Quallenarten das Potenzial zur Ausbreitung in den Arktischen Ozean haben.

Ausbreitungstrends von Feuerqualle und Co untersucht

Für ihre Studie sammelten die Forschenden Daten zur Temperaturtoleranz und den physiologischen Anforderungen von acht auf der Nordhalbkugel verbreiteten Quallenarten und speisten diese in eine Simulation des Arktischen Ozeans und seiner künftigen Entwicklung ein. Zu den Quallenarten gehörten neben der auch in Nord- und Ostsee vorkommenden Melonenqualle (Beroe sp.) und der Feuerqualle (Cyanea capillata) auch die in der Tiefsee lebende Kronenqualle (Periphylla periphylla).

„Durch die Kopplung mit dem MPI-Erdsystemmodell konnten wir dann für diese Quallenarten berechnen, wie sich deren Verbreitung ausgehend vom Referenzzeitraum 1950 bis 2014 bis in die zweite Hälfte des laufenden Jahrhunderts 2050 bis 2099 verändern wird“, erläutert Seniorautorin Charlotte Havermans. Dabei gingen sie und ihr Team von einer Klimaentwicklung mit mittleren bis hohen Treibhausgasemission aus und bezogen nicht nur die Veränderungen an der Meeresoberfläche mit ein, sondern auch die in tieferen Wasserschichten.

Das Nordpolarmeer wird erobert

Das Ergebnis: Bis auf eine Ausnahme können alle untersuchten Quallen-Spezies ihren Lebensraum massiv polwärts ausdehnen. In der zweiten Hälfte des laufenden Jahrhunderts wären dadurch sieben der acht Quallenarten fast im gesamten Küstenbereich des Nordpolarmeers präsent. Besonders stark breitet sich die Feuerqualle aus: Sie profitiert von steigenden Wassertemperaturen und schwindendem Meereis und kann ihr arktisches Verbreitungsgebiet bis 2100 fast verdreifachen, wie das Team ermittelte.

Für die Fische und Nahrungsnetze des Arktischen Ozeans könnte dies dramatische Folgen haben. Denn gerade die relativ große Feuerqualle ist dafür bekannt, dass sie beispielsweise Dorsche aus ihren Habitaten verdrängen kann. Auch die Laichgründe dieser kommerziell wichtigen Fischart wären durch die Qualle in Gefahr. „Vor allem in den Regionen um Spitzbergen und Nowaja Semlja könnte die Nordexpansion der Feuerqualle die Laichgründe des Dorschs signifikant treffen“, berichten Pantiukhin und seine Kollegen.

Aber auch andere Quallenarten, wie die Kronenqualle, sind bereits dafür bekannt, den Dorschnachwuchs drastisch zu dezimieren. In den norwegischen Fjorden war dies bei Massenvermehrungen dieser Quallenart bereits der Fall.

„Massive und kaskadenhafte Auswirkungen“

„Diese Ergebnisse machen deutlich, wie dramatisch der Klimawandel die Ökosysteme des Arktischen Ozeans in Zukunft verändern kann“, sagt Pantiukhin. „Die prognostizierte Ausdehnung der Quallenhabitate könnte massive und kaskadenhafte Auswirkungen auf das ganze Nahrungsnetz haben.“ Um jedoch die Folgen dieser „Verquallung“ in Gänze zu verstehen, seien nun weitere, detailliertere Untersuchungen nötig.

Dennoch sehen die Forschenden schon jetzt Handlungsbedarf: „Auch Management-Pläne im Fischereibereich müssen diese dynamische Entwicklung dringend berücksichtigen, wenn sie den Zusammenbruch stark befischter Bestände künftig vermeiden und diese nachhaltig bewirtschaften wollen“, sagt Havermans. (Limnology & Oceanography, 2024; doi: 10.1002/lno.12568)

Quelle: Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

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