Paläontologie

Ein Kopf für den größten Gliederfüßer aller Zeiten

Rätsel um Lebensweise des Riesentausendfüßers „Arthropleura“ gelöst

Arthropleura-Fossil
Paläontologen haben erstmals Arthropleura-Exemplare mit erhaltenem Kopf gefunden. © Lhéritier et al., Sci. Adv. 10, eadp6362 (2024)

Endlich nicht mehr kopflos: Paläontologen haben erstmals einen fossilen Kopf des 2,60 Meter langen Riesentausendfüßers Arthropleura gefunden – des größten Gliederfüßers aller Zeiten. Bei früheren Fossilienfunden fehlte der Kopfbereich weitgehend, was auch die Erforschung der Lebensweise von Arthropleura erschwerte. Doch nun, da diese Hürde genommen ist, lässt sich das Leben des vor 290 Millionen Jahren ausgestorbenen Riesentausendfüßers endlich rekonstruieren.

Libellen mit 70 Zentimetern Flügelspannweite, Landskorpione mit Beinen so lang wie ein menschlicher Arm und Tausendfüßer größer als ein erwachsener Mann: Wer sich vor Insekten und anderen Krabbeltieren fürchtet, für den gleicht die Welt des Karbons vor 300 Millionen Jahren wahrscheinlich einem Horrorfilm.

Dass damals einige Lebewesen, die wir heute nur im Miniformat kennen, zu wahren Giganten werden konnten, war dem übermäßig hohen Sauerstoffgehalt der Atmosphäre geschuldet. Er lieferte Insekten und anderen Gliederfüßern mehr Energie und ermöglichte ihnen dadurch den Riesenwuchs.

Ein Kopf für Arthropleura

Von diesem Sauerstoff-Boost profitierte auch der 2,60 Meter lange Riesentausendfüßer Arthropleura – eine der Ikonen des Karbons und der größte Gliederfüßer aller Zeiten. Er lebte vor 345 bis 290 Millionen Jahren in den damals noch in Äquatornähe gelegenen Wäldern Europas und Nordamerikas. Doch wie genau sein Leben aussah, ist schwer zu sagen, denn den bisherigen Fossilienfunden fehlte stets ein entscheidendes Merkmal: der Kopf.

Klarheit könnten nun neue Arthropleura-Funde aus dem französischen Montceau-les-Mines, zwei Autostunden nördlich von Lyon, bringen. Es handelt sich bei ihnen um mehrere Jungtiere, deren Köpfe zwar immer noch nicht komplett, aber immerhin mit zahlreichen Details wie den Mundwerkzeugen erhalten sind. Um mehr über die Kopfanatomie dieser Giganten unter den Arthropoden zu erfahren, haben Mickaël Lhéritier von der Universität Lyon I und seine Kollegen zwei Fossilien nun mit einem Mikro-Computertomographen untersucht.

Lebendrekonstruktion eines Jungtieres
Eines der fossilen Jungtiere als Lebendrekonstruktion © Lhéritier et al., Sci. Adv. 10, eadp6362 (2024)

Ein gemächlicher Riese

Das Ergebnis: Arthropleura besaß offenbar einst seitliche Stielaugen, die aber anders als bei Fliegen oder Libellen keine Facettenaugen waren, wie Lhéritier und seine Kollegen herausgefunden haben. Außerdem stellte sich im Zuge der Scans heraus, dass die Fühler des Urzeitriesen aus sieben Segmenten bestanden und dass die Mundwerkzeuge zangenartig geformt waren. Zum Fangen von Beutetieren waren diese aber wahrscheinlich genauso wenig geeignet wie die anderen Körperanhängsel des Gliederfüßers, so die Einschätzung des Teams.

Die Paläontologen gehen stattdessen davon aus, dass sich Arthropleura von Detritus, also von toter organischer Materie wie Laubstreu und Aas, ernährte. Dafür spricht auch, dass der Riesentausendfüßer aufgrund seiner Körpersegmentierung und verhältnismäßig kurzen Beine wahrscheinlich eher gemächlich unterwegs war und damit nicht gerade als aktiver Jäger taugte, wie die Forschenden erklären.

Die Fossilien verraten aber nicht nur mehr über den Speiseplan von Arthropleura, sondern auch über seinen Lebenszyklus, wie Lhéritier und sein Team berichten: „Bei beiden Exemplaren sind die hinteren Rückenplatten und Beinpaare kleiner als ihre vorderen Gegenstücke, vermutlich weil sie sich noch in der Entwicklung befinden. Dies deutet darauf hin, dass Arthropleura bei jeder Häutung Segmente und Beinpaare hinzugewonnen hat.“

Mundwerkzeuge im Vergleich
Die Mundwerkzeuge von Arthropleura (oben) im Vergleich zu denen moderner Tausend- und Hundertfüßer © Lhéritier et al., Sci. Adv. 10, eadp6362 (2024)

Tausendfüßer oder Hundertfüßer?

Ungewöhnlich auch: Arthropleura vereint in seinem Kopf anatomische Merkmale von zwei verschiedenen Gliederfüßer-Gruppen, die bis vor kurzem noch als entfernte Verwandte galten – von Hundertfüßern und von Tausendfüßern. Anders als die Namen vermuten lassen, unterscheidet beide nicht etwa die Anzahl ihrer Beine, sondern der Grundaufbau ihrer Anatomie. So haben Tausendfüßer zum Beispiel einen eher rundlichen Körper mit zwei Beinpaaren pro Körpersegment, während Hundertfüßer flacher sind und nur ein Beinpaar pro Segment besitzen.

Auch die Köpfe von Tausend- und Hundertfüßern sind anders aufgebaut, wobei Arthropleura Elemente beider Gruppen besitzt. Das deutet darauf hin, dass er entweder bereits zu den primitiven Tausendfüßern gehörte oder zu einer Stammgruppe, aus der später sowohl Hundert- als auch Tausendfüßer hervorgegangen sind, wie Lhéritier und sein Team berichten. (Science Advances, 2024; doi: 10.1126/sciadv.adp6362

Quelle: Amerikanische Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaft (AAAS), Science Advances

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