Chaos statt Ordnung: Unser Erbmaterial ist im Zellkern ganz anders angeordnet, als es in den Lehrbüchern steht. Denn das aus DNA und Proteinen bestehenden Chromatin bildet chaotische Faltungen und Knäuel, statt säuberlich zu immer dickeren Fasern zusammengelagert zu sein. Dies enthüllt die erste direkte Beobachtung der Chromatinstruktur in intakten Zellen. Damit ergeben sich ganz neue Einblicke in die Verknüpfung von Form und Funktion der DNA, so die Forscher im Fachmagazin „Science“.
Die DNA ist der Träger unserer Erbinformation und damit eine Art Referenzbibliothek für alle unsere Zellen. Entsprechend umfangreich ist sie: Allein die DNA aus einer einzigen Zelle ist rund zwei Meter lang, das Erbmaterial aller unserer Körperzellen aneinandergelegt würde sogar von hier bis zum Zwergplaneten Pluto reichen.
Rätsel der Verpackung
Wie aber ist dieser enorm lange Strang in dem nur sechs Mikrometer kleinen Zellkern verstaut? Genau diese Frage ist selbst gut 60 Jahre nach der Entdeckung der DNA noch weitgehend unbeantwortet. Klar ist, dass sich die DNA mit Proteinen zu Histonen und diese wiederum zu Chromatin zusammenlagern – ähnlich einer Perlenkette.
Doch das Chromatin die Chromosomen bildet, darüber gibt es nur Theorien. Den meisten Lehrbüchern nach lagern sich die Chromatin-„Perlenketten“ zu immer dicker werdenden Fasern zusammen, zunächst von 30, dann von 120 und 320 Nanometern Dicke. Diese kombinieren sich schließlich zu den Chromosomen.
Chromatinstruktur sichtbar gemacht
Ob dies wirklich so ist, ließ sich aber bisher nicht beweisen, weil keine zerstörungsfreien Abbildungsmethoden existierten. ‚“Es ist eine der widerspenstigsten Herausforderungen der Biologie, diese höhere Struktur der DNA zu beobachten und zu sehen, wie sie mit der Funktion des Genoms verknüpft ist“, erklärt Studienleiterin Clodagh O’Shea vom Salk Institute for Biological Studies in La Jolla.
Genau diese Herausforderung haben O’Shea und ihre Kollegen nun gemeistert. Sie haben einen Farbstoff gefunden, der selektiv Metall an die DNA anlagert und so die Chromatinstruktur sichtbar macht, ohne sie zu verändern oder zu zerstören. Dadurch konnten sie das Erbmaterial im Zellkern intakter Zellen präparieren und mittels Elektronenmikroskop-Tomografie (ChromEMT) dreidimensional abbilden.
Knäuel statt säuberliche Lagen
Das überraschende Ergebnis: Von den in Lehrbüchern postulierten ordentlichen Fasern oder säuberlichen Strukturen ist nichts zu sehen. Im Gegenteil: Das Chromatin bildet im Zellkern unordentliche Cluster, in denen das Erbmaterial auf ganz unterschiedliche Weise gefaltet und verknäuelt ist, wie die Aufnahmen enthüllten.
„Wir beobachten zum Beispiel Chromatinketten mit kurzen geraden Abschnitten, in denen das Chromatin wie gestapelt erscheint“, berichten die Wissenschaftler. „Dann wieder gibt es Chromatinketten mit einer helixartigen Windung. Ein weiteres wiederkehrendes Muster ist die Bildung von Schleifen verschiedenster Größe innerhalb und zwischen den Chromatinketten.“
Lehrbuch-Theorie widerlegt
Diese scheinbar chaotische Struktur des Chromatins widerspricht klar der gängigen Theorie – die Lehrbücher müssen wohl umgeschrieben werden. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Chromatin gar keine festen Strukturen höherer Ordnung bilden muss, um in den Zellkern zu passen“, sagt O’Shea. „Stattdessen liefert die Packungsdichte die Basis für die verschiedenen Strukturen.“
Die Packungsdichte beeinflusst auch, an welchen Stellen die DNA zugänglich und ablesbar ist, so die Forscher. Die dafür benötigten Enzyme werden von der Form der Falten und Knäuel direkt an die Andockstellen geleitet – sie tauchen in die Struktur ein wie eine Drohne in einen Canyon. „So kontrolliert die Packungsdichte die funktionelle Aktivität und die Zugänglichkeit unseres Erbguts“ , erklärt O’Shea.
„Bahnbrechende Errungenschaft“
Erstmals ist damit eines der großen Rätsel unseres Erbmaterials gelöst. Dank der neuen Möglichkeit, das Chromatin an Ort und Stelle zu beobachten, können Wissenschaftler nun erstmals direkt erforschen, wie die übergeordnete Struktur der DNA ihre Aktivität beeinflusst. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten der Forschung, aber vielleicht auch der Medizin.
„Die Visualisierung des Chromatinfadens im Zellkern ist eine bahnbrechende Errungenschaft“, schreiben denn auch Daniel Larson und Tom Misteli vom US National Cancer Institute in einem begleitenden Kommentar. (Science, 2017; doi: 10.1126/science.aag0025)
(Salk Institute/ Science, 28.07.2017 – NPO)