Rohkost ist möglicherweise schuld daran, dass die großen Menschenaffen kein größeres Gehirn entwickelten. Denn ihre Nahrung – Blätter, Früchte, rohes Fleisch – liefert ihnen nicht genügend Energie, um zusätzliche Gehirnzellen versorgen zu können. Das haben brasilianische Forscherinnen errechnet. Ein Gorilla müsste demnach jeden Tag mehr als zwei Stunden länger fressen, um ein im Verhältnis genauso großes Gehirn wie wir Menschen zu ernähren. Da der Gorilla aber jetzt schon 80 Prozent seines Tages mit Fressen verbringe, sei das unmöglich, berichten die Forscherinnen im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“. Unsere Vorfahren dagegen hätten sich diesem Dilemma entzogen, indem sie begannen, ihre Nahrung zu kochen. „Wenn Nahrung gekocht wird, liefert sie mehr Kalorien, weil die Nährstoffe besser verdaut und vom Körper aufgenommen werden können“, erklären Karina Fonseca-Azevedo von der Universidade Federal do Rio de Janeiro und ihre Kollegin.
Kochen und Gehirn als Henne-Ei-Problem
Schon seit einiger Zeit streiten Evolutionsbiologen darüber, welche Rolle das Kochen für die Gehirnentwicklung unserer Vorfahren spielte. Einige, darunter der US-Forscher Richard Wrangham, gehen davon aus, dass warmes Essen die Voraussetzung war, damit Vormenschen wie der Homo erectus vor mehr als einer Million Jahren den Energiehunger ihres wachsenden Gehirns decken konnten. Andere Forscher halten eine umgekehrte Reihenfolge für wahrscheinlicher: Erst entwickelte der Mensch ein größeres Gehirn, dann erfand er das Kochen. Wann der Urmensch erstmals begann, seine Nahrung im Feuer zu erhitzen, ist allerdings unklar. Die älteste bekannte Feuerstelle, entdeckt 2008 in Israel, ist schon knapp 800.000 Jahre alt. Die dortigen archäologischen Funde zeigen aber nicht, ob dieses Feuer bereits zum Kochen genutzt wurde.
In ihrer Studie rechneten die Wissenschaftlerinnen aus, wie viele Kalorien ein Primat aufnehmen muss, um ein Gehirn zu ernähren, das im Verhältnis zum Körper genauso groß ist wie beim Menschen. „Obwohl das Gehirn bei uns nur zwei Prozent unseres Körpergewichts ausmacht, benötigt es 20 Prozent der gesamten in Ruhe verbrauchten Energie“, sagen die Forscherinnen. Die benötigten Kalorien verglichen sie mit der Zeit, die Menschenaffen und andere Primaten benötigen, um eine bestimmte Menge Nahrung zu sammeln und zu fressen.
733 Kilokalorien mehr pro Tag
„Ein Gorilla müsste 122 Milliarden Gehirnzellen zusätzlich entwickeln, damit sein Gehirn zwei Prozent seines Körpergewichts ausmacht“, erklären die Wissenschaftlerinnen. Dafür müsste der Menschenaffe 733 Kilokalorien mehr pro Tag aufnehmen, denn das Gehirn verbrauche für jede Milliarde Neuronen mehr rund sechs Kilokalorien. Um diese zu bekommen, müsste der Gorilla zwei Stunden und 12 Minuten länger Futter suchen und fressen als die bisher durchschnittlich acht Stunden.
Hätte unser früher Vorfahre, der vor rund einer Million Jahren lebende Homo erectus, sich genauso ernährt wie die heutigen Menschenaffen, hätte auch er mindestens neun Stunden täglich für die Nahrungssuche benötigt, wie die Forscherinnen ermittelten. Für andere Tätigkeiten wie das Werkzeugmachen oder soziale Kontakte wäre dann kaum mehr Zeit übrig geblieben. „Unsere Daten sind eine direkte Bestätigung der Theorie von Wrangham“, konstatieren Fonseca-Azevedo und ihre Kollegin Suzana Herculano-Houzel. Allein mit Rohkost hätten unsere Vorfahren ihr großes Gehirn nicht entwickeln können. (doi: 10.1073/pnas.1206390109)
(Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), 23.10.2012 – NPO)