Urzeit-Krimi: In Venezuela haben Paläontologen ein einzigartiges Fossil entdeckt – eine urzeitliche Seekuh, die vor 20 Millionen Jahren gleich doppelt zum Opfer wurde. Wie Zahnspuren an den Knochen nahelegen, wurde der urzeitliche Meeressäuger zuerst von einem Krokodil angegriffen und später dann von einem Hai gefressen, der dabei sogar einen seiner Zähne verlor. Den genauen Tathergang haben die Wissenschaftler nun rekonstruiert.
Wer in der Urzeit wen fraß, ist nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich. Entscheidende Hinweise können allerdings Bissspuren an den Knochen des Opfers oder der versteinerte Mageninhalt von Raubtieren liefern. In ganz seltenen Fällen sind Angreifer und Opfer sogar während ihres Kampfes gemeinsam umgekommen und schließlich als Doppelfossil versteinert.
Erst ein Krokodil, …
In Venezuela haben Paläontologen um Aldo Benites-Palomino von der Universität Zürich nun einen besonders skurrilen Fall eines Urzeit-Krimis freigelegt. In der 23 bis 11,6 Millionen Jahre alten Agua-Clara-Formation sind sie auf die Überreste einer urzeitlichen Seekuh der Gattung Culebratherium gestoßen, die am Ende ihres Lebens offenbar einiges durchmachen musste. Denn die Schädelfragmente und 18 Wirbel, die von ihr erhalten sind, sind übersät mit Bissspuren.
An der Schnauze der Seekuh fanden Benites-Palomino und seine Kollegen kreisrunde tiefe Zahnabdrücke, die an manchen Stellen in Rillen übergehen. Als Verursacher kommt nach Einschätzung der Forschenden nur ein urzeitliches Krokodil aus der Familie der Kaimane in Frage. Das Muster der Bisspuren deutet demnach daraufhin, dass der kleine bis mittelgroße Angreifer die Seekuh zunächst an der Schnauze packte, um sie zu ersticken.
Dann muss das Krokodil ähnlich wie seine modernen Artgenossen eine sogenannte Todesrolle ausgeführt haben, bei der es sich mit der Seekuh im Maul immer wieder um die eigene Achse drehte und so Fleischstücke aus ihr herausriss, wie die Forschenden erklären.
… dann ein Hai
Das Krokodil war damit zwar derjenige, der die Seekuh erlegt hat, doch längst nicht der Einzige, der sich danach an ihrem massigen Körper bediente. Denn die Schädelfragmente und Wirbel des Tieres weisen noch weitere Bissspuren auf: lange, schmale Schlitze mit dreieckigem Querschnitt – das Markenzeichen einer Haiattacke.
Benites-Palomino und sein Team vermuten, dass sich damals mehrere Haie am Kadaver der Seekuh gütlich taten. Doch nur einer von ihnen hat den Paläontologen auch seine Visitenkarte in Form eines ausgefallenen Zahns hinterlassen. Dieser wurde in Halsnähe des Opfers gefunden und stammt nach Einschätzung der Paläontologen von einem urzeitlichen Tigerhai (Galeocerdo aduncus). Er und die anderen Haie hatten es bei ihrer Fressorgie wahrscheinlich vorrangig auf den fetthaltigen Blubber der Seekuh abgesehen.
Neuer Einblick in urzeitliche Nahrungsketten
Das Leben der Seekuh mag damit zwar einst tragisch geendet haben, doch für die Paläontologen sind die Überreste dieses Urzeit-Krimis eine wahre Fundgrube. „Unsere Ergebnisse bieten einen seltenen Einblick in die komplexen Raubtier-Beute-Beziehungen des Miozäns vor etwa 23 bis 11,6 Millionen Jahren und sind einer der wenigen Belege dafür, dass sich mehrere Raubtiere von derselben Beute ernährten“, erklärt Benites-Palomino.
Die Funde deuten demnach darauf hin, dass die Nahrungskette schon damals ähnlich aufgebaut war wie heute: Der Kadaver eines erlegten Tieres diente auch vor 20 Millionen Jahren schon vielen anderen Raubtieren und Aasfressern als Nahrung. (Journal of Vertebrate Paleontology, 2024; doi: 10.1080/02724634.2024.2381505)
Quelle: Taylor & Francis Group