Der Tiefsee-Kalmar Grimalditeuthis gab Biologen Rätsel auf. Denn über ihn war bisher so gut wie nichts bekannt, außer dass er existiert. Jetzt haben US-amerikanische Forscher den Kopffüßer erstmals in seinem natürlichen Lebensraum gefilmt und dabei Erstaunliches entdeckt: Im Gegensatz zu anderen Kalmaren haben diese Tintenfische weder Haken, Saugnäpfe noch Leuchtorgane in ihren Tentakeln und aktiv greifen können sie damit auch nicht. Trotzdem setzen sie sie raffiniert zum Beutefang ein.
Tiefsee-Kalmare gehören zu den geheimnisvollsten Vertretern der Kopffüßer in den Meeren. Viele von ihnen sind riesenhaft groß, andere locken ihre Beute mit raffinierten Lichtspielen und über wieder andere ist bisher so gut wie nichts bekannt außer dass sie existieren. Die meisten Kalmare besitzen ein Paar von Tentakeln – lange, weit über die zehn Arme hinaus reichende Fortsätze.
Diese sind wichtige Werkzeuge für den Beutefang: Die Tiere strecken ihre Tentakel mit den verdickten, mit Saugnäpfen oder Haken bewehrten Enden in Richtung der Beute aus, fassen diese und ziehen sie dann mitsamt der Tentakel schnell wieder in Richtung ihrer Arme und des Mundes. Vor allem in der Tiefsee gibt es aber auch Kalmare wie Chiroteuthis calyx, die eher auf eine indirekte Strategie setzen: Sie bewegen ihre mit Leuchtzellen besetzten Tentakel langsam im Wasser hin und her, um neugierige Fische auf Nahrungssuche anzulocken und sie dann damit zu packen. So weit so bekannt.
Tentakel scheinbar nutzlos
Es gibt aber einen Tiefseekalmar, der in keines der bisher bekannten Schemata passt. „Grimalditeuthis bonplandi ist einzigartig unter allen zehnarmigen Kopffüßern“, erklären Henk-Jan Hoving vom Monterey Bay Aquarium Research Institute in Moss Landing und seine Kollegen. Denn dieser Kalmar besitzt extrem dünne und zerbrechliche Tentakel, die an den Enden seltsamerweise weder Saugnäpfe, Haken noch Leuchtzellen tragen. Die Anhängsel der Zehnfüßer sind sogar so fragil, dass bisher nur ein einziges Exemplar dieser Tierart gefunden wurde, das wenigstens noch eines seiner beiden Tentakel besaß, wie die Forscher berichten.
Und noch etwas kommt hinzu: Untersuchungen dieses Exemplars legten nahe, dass der Kalmar zu allem Überfluss seine Tentakel nicht einmal aktiv ausstrecken oder zurückziehen kann. Er scheint keine Muskeln zu besitzen, die ihre Bewegung aktiv steuern. Unter anderem deshalb war bisher vollkommen rätselhaft, was der Kalmar mit diesen Tentakeln macht und wozu sie gut sind.
Tauchroboter auf der Pirsch
Um das Rätsel der scheinbar nutzlosen Tentakel von Grimalditeuthis bonplandi zu lösen, schickten Hoving und seine Kollegen einen ferngesteuerten Tauchroboter auf die Pirsch. Diesen steuerten sie unter anderen durch den Untersee-Canyon, der bei Monterey vor der kalifornischen Küste liegt und durch die Tiefsee im Golf von Mexico.
An beiden Orten wurden sie fündig: Im Golf von Mexico gelang es dem Roboter, in 914 bis 1.981 Metern Wassertiefe gleich sechs Exemplare von Grimalditeuthis bonplandi in ihrem natürlichen Lebensraum zu filmen. Im Monterey Canyon fing der Roboter dank einer speziellen Saugvorrichtung sogar ein Exemplar dieses Kalmars ein und brachte ihn an die Oberfläche. Den Forschern lieferten sowohl die Videoaufnahmen als auch das gefangene Exemplar erstmals die Gelegenheit, das Verhalten dieser Tiere genauer zu studieren – und das Rätsel der Tentakel aufzuklären.
Wedelndes Ende als Köder
„Als wir zu Gesicht bekamen, schwebten alle Kalmare dieser Art im Wasser auf der Stelle und hielten ihre Position, indem sie leicht mit ihren Flossen wedelten“, berichten die Forscher. Dann wurde es interessant: Die Kalmare begannen nun, mit den lappigen Erweiterungen ihrer Tentakelenden wellenartig vor und zurück zu wedeln. Dadurch bewegten sich diese Enden wie kleine Fische vorwärts und zogen dabei den Rest des dünnen Tentakels mit. Auf diese Weise schafften es die Tiere, diese Fortsätze auszustrecken, obwohl sie keinerlei Muskeln im Tentakelstil besitzen.
Einmal ausgestreckt, wedelten die Kalmare weiter mit den Tentakelenden – um Beute anzulocken, wie die Wissenschaftler vermuten. Denn die wellenartigen und schlagenden Bewegungen dieser Enden ähneln denen schwimmender Kleintiere wie Fischen, Krebsen oder Würmern. „Wir vermuten, dass Grimalditeuthis diese Ähnlichkeit ausnutzt“, so Hoving und seine Kollegen.
Vibrationen oder indirektes Lichtsignal
Theoretisch kämen dabei drei Mechanismen in Betracht: Die Bewegungen der Enden könnten niederfrequente Vibrationen verursachen, die von den feinen Sensoren der Beutetiere eingefangen und als Hinweis auf eine vielversprechende Mahlzeit missverstanden werden. Möglich wäre aber auch, dass diese Vibrations-Signale denen ähneln, mit denen beispielsweise Krill-Krebse ihre Artgenossen zum Schwarm zusammentrommeln.
Oder aber die Anlockung der Beute erfolgt mittels indirektem Lichtsignal: Die Bewegung der Tentakelenden könnte Leuchtbakterien und andere in der Nähe schwebende Organismen mit Biolumineszenz zum Leuchten anregen – und so Krebse und Fische zum Näherkommen bewegen. Unabhängig, welchen Mechanismus Grimalditeuthis bonplandi tatsächlich nutzt, ist schon der Einsatz seiner Tentakel als Lockmittel bereits eine kleine Sensation. „Denn bisher gibt es kaum unumstrittene Beispiele für einen Kopffüßer, der einen solchen Köder nutzt“, betonen die Wissenschaftler.
Der Berg kommt zum Propheten
Und auch die Art, wie der Kalmar seine Tentakel einsetzt, sei absolut einzigartig. Denn hat das Tier erst einmal vielversprechende Beute angelockt, hat es noch ein weiteres Problem: Weil der Kalmar weder Saugnäpfe noch Haken besitzt, kann er die Beute nicht festhalten. Und zu sich heranziehen kann er sie ohnehin nicht, weil ihm Muskeln im Tentakelstil fehlen. Was also tut der Kalmar? Statt die Beute zu sich zu holen, schwimmt er einfach zu den Tentakelenden hin. Kommt der Prophet nicht zum Berg, muss eben der Berg – in diesem Fall der Körper des Tintenfisches – zum Propheten alias der Beute kommen. (Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences,2013; doi: 10.1098/rspb.2013.1463
(Royal Society, 28.08.2013 – NPO)