Vom Einzeller zum Mehrzeller: Erstmals haben Forscher in Echtzeit mitverfolgt, wie sich mehrzelliges Leben entwickelt. Bei der einzelligen Grünalge Chlamydomonas reinhardtii führte ein Selektionsdruck durch Fressfeinde dazu, dass innerhalb von nur 500 Generationen Mutationen entstanden, die den Weg zur Mehrzelligkeit ebnen. Voraussetzung dafür ist, dass die mehrzelligen Verbände bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen haben als einzellige Varianten.
Wie haben sich mehrzellige Lebewesen entwickelt? Eine gängige Theorie besagt, dass sich Einzeller zunächst zu Kolonien zusammengelagert haben, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen – ähnlich wie Bakterien in Biofilmen. Durch genetische Weiterentwicklungen könnte sich dann ihre Reproduktionsrate erhöht haben. Schritte zur Spezialisierung in Körper- und Keimzellen erfolgten erst danach.
Auf dem Weg zur Mehrzelligkeit
„Diese Theorie wurde jedoch nie getestet, und die Übergänge sind auf ökologischer und genetischer Ebene nach wie vor schlecht verstanden“, schreibt ein Forschungsteam um Joana Bernardes vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön. An der einzelligen Grünalge Chlamydomonas reinhardtii haben die Wissenschaftler die Theorie nun experimentell getestet und bestätigt.
Chlamydomonas reinhardtii bildet normalerweise keine Kolonien, sondern kommt in Form einzelner begeißelter Zellen vor. Doch die Alge gehört zu einer größeren Gruppe von Grünalgen, in der verschiedene Stufen bis hin zu einer arbeitsteiligen Mehrzelligkeit vorkommen – von losen Kolonien bis zu komplexeren Gebilden mit einer Differenzierung zwischen „normalen“ Zellen und Keimzellen. Weil Chlamydomonas dem einzelligen Urahn dieser schon mehrzelligen Algenkolonien ähnelt, wählten die Wissenschaftler diese Algenart für ihren Versuch.
Selektionsdruck durch einen Fressfeind
Für das Experiment nutzten Bernardes und ihre Kollegen zehn verschiedene einzellige Zelllinien, die sie jeweils ein halbes Jahr lang in einem Medium wachsen ließen. „Eine Bedingung, unter der die Evolution von Zellgruppen wiederholt beobachtet wurde, ist die Reaktion auf Prädation“, erläutern die Forscher. Um einen solchen Selektionsdruck zu erzeugen, setzten sie manche der Algenkulturen einem Fressfeind aus, einem mehrzelligen Rädertierchen.
Ohne Räuber sind einzellige Algen im Vorteil: Bei der Teilung und bei der Photosynthese werden sie nicht von unmittelbar benachbarten Zellen eingeschränkt. Einem Fressfeind jedoch sind sie ungeschützt ausgeliefert. Der Theorie zufolge sollte daher die Anwesenheit eines Räubers dazu führen, dass sich Mutationen durchsetzen, die den Zellen ermöglichen, Kolonien zu bilden.
Theorie bestätigt
Und tatsächlich: „Wir fanden heraus, dass Algen, die unter dem Einfluss eines Räubers selektiert wurden, eher Zellgruppen bildeten“, berichten die Forscher. „Zugleich zeigten sie wie erwartet eine Abnahme der Wachstumsrate und eine Zunahme des Verteidigungsniveaus gegen den Verzehr durch den Räuber.“ Als Folge bildeten sich in den Ansätzen mit den Fressfeinden deutlich mehr Kolonien, in denen mehrere Chlamydomonas-Zelle von einer gemeinsamen Gallerthülle umgeben blieben.
„Die Verteilung der Kolonietypen, die überleben, und derjenigen, die sich schnell reproduzieren, passt genau zu der Theorie, die wir getestet haben“, sagt Bernardes Kollege Lutz Becks. Zwar reproduzierten sich die Algen in Zellverbünden weniger stark als die einzelligen Varianten, glichen das aber durch eine höhere Gesamtüberlebensrate aus.
Evolution auch an den Genen ablesbar
Genomvergleiche enthüllten, dass sich diese Evolution nicht nur auf die Lebensweise der einzelnen Algengenerationen erstreckte, sondern auch auf vererbbare Merkmale: „Wir hatten eigentlich erwartet, dass die Bildung von Kolonien durch verschiedene Mechanismen in den Algenzellen erreicht werden kann und wir daher auch verschiedene Mutationen finden“, sagt Becks.
Tatsächlich stellten die Forschenden fest, dass es zwischen den einzeln lebenden und den koloniebildenden Chlamydomonas-Kulturen genetische Unterschiede gab: Für 64 Gene war die Aktivität bei den Algengruppen heruntergeregelt, 110 andere Genen waren dafür aktiver. Nach Angaben der Forschenden belegen diese in den jeweiligen Kulturen immer wieder beobachteten Veränderungen der Genaktivität, dass der äußerlich sichtbare Wandel vererbbar ist.
Die Ergebnisse bestätigen nicht nur die zugrundeliegende Theorie, sondern belegen auch, dass sich der evolutionäre Schritt von der Einzelligkeit zur Mehrzelligkeit sehr schnell vollziehen kann – im Fall von Chladomonas reinhardtii in nur etwa 500 Generationen. (Nature Communications, 2021, doi: 10.1038/s41467-021-24503-z)
Quelle: Universität Konstanz