Evolution

Evolution: Weniger ist manchmal mehr

Wissenschaftler finden weiteren Beleg für den vorteilhaften evolutionären Verlust von Genen

Neue Ergebnisse Leipziger Wissenschaftler haben die
Sichtweise auf evolutionäre Prozesse erweitert. Demnach ist Evolution nicht mehr nur als eine Verbesserung des Genpools durch ein Mehr an Funktionen zu verstehen. Auch der Verlust von ursprünglich nützlichen Genen stellt sich als wichtiger Schritt auch in der Evolution zum Menschen dar, schreiben die Forscher in der Fachzeitschrift „PLoSOne“.

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Herkömmlich verbindet man die Evolution von Spezies mit dem Zugewinn oder der Veränderung von Protein- und Genfunktionen. Der Sequenzvergleich der Genome des Menschen mit denen des Neandertalers, vieler Primaten und anderer Säugetiere hatte diese Annahme in den vergangenen Jahren verfestigt. Es gibt jedoch auch einige Hinweise, dass bei der evolutionären Auswahl Gene und ihre Funktion komplett verloren gehen können.

In solchen Fällen ist die Funktion des Gens nicht mehr notwendig oder wird durch andere Faktoren kompensiert. Beispiel Sonnenschutz: Mit der Auswanderung des Menschen von Afrika in nördliche Breitengrade hat sich die starke Hautpigmentierung verändert.

Gene aktiv abgeschaltet

Wissenschaftler um Torsten Schöneberg und Claudia Stäubert, beide vom Institut für Biochemie der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig und Wolfgang Enard vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie beschäftigen sich seit mehreren Jahren mit Genen, die inaktiviert, wissenschaftlich gesprochen pseudogenisiert wurden. Dabei stießen sie auf eine ganze Gruppe von Genen, die zwar für Zelloberflächenrezeptoren kodieren, im Menschen aber so gut wie nicht mehr funktionsfähig sind.

Eingehende Analysen erbrachten Hinweise, dass die Stilllegung dieser Rezeptoren nicht nur stattgefunden haben kann, weil sie überflüssig wurden, sondern dass sie aktiv abgeschaltet wurden, weil Individuen in der frühen Menschenaffenentwicklung ohne diese Rezeptoren wahrscheinlich einen evolutionären Vorteil hatten.

Funktionsweise von Rezeptoren

Rezeptoren sind Proteine, die chemische Signale und Veränderungen im Umfeld einer Zelle wahrnehmen können. Beispiel Riechrezeptoren: Die Zersetzungsprodukte bei der Verwesung von Fisch aktivieren Rezeptoren im Riechorgan, die wiederum die Warnfunktion „nicht genießbar“ auslösen und ans Gehirn senden. Rezeptoren sind in allen Säugetieren überall im Organismus verteilt vorhanden, vor allem im zentralen Nervensystem.

Die von den Leipziger Forschern unter die Lupe genommenen Rezeptoren können Abbauprodukte von Botenstoffen im Nervensystem – Neurotransmitter -, sowie Amphetamine oder psychedelischen Substanzen wie LSD erkennen. Deshalb stehen diese Rezeptoren, so genannte Trace amine-associated receptors, seit geraumer Zeit auch im Focus der Pharmakologie, erklärt Schöneberg. „Diese Neurotransmitterabbauprodukte aktivieren die Rezeptoren, jedoch sind von diesen im menschlichen Organismus nur noch ganz wenige vorhanden.“

Sichelzellanämie und HIV

Bislang dienten als Belege für den vorteilhaften evolutionären Verlust von Genen nur sehr wenige Beispiele, die auch nur einen Teil der menschlichen Bevölkerung betrafen: Die so genannte Sichelzellanämie und HIV. Die Sichelzellanämie, die hauptsächlich bei afrikanischstämmigen Menschen vorkommt, ist eine Erkrankung, die zu Organschäden führt.

Gleichzeitig wirkt sie jedoch positiv als Schutz vor Malaria. Ähnlich beim HI-Virus: Um in Zellen einzudringen, macht sich das Virus einen bestimmten Rezeptor zunutze. In zehn Prozent der europäischen Bevölkerung ist dieser Rezeptor funktionslos, also pseudogenisiert. Diese Bevölkerungsgruppe ist somit gut vor einer Erkrankung durch die meisten HIV-Stämme geschützt – im Epidemiefall ein evolutionärer Vorteil.

Zeitgleiches Abschalten

Im Fall der von den Leipziger Forschern untersuchten Rezeptoren steht noch nicht fest, warum ihre Funktion im Laufe der Evolution zum Mensch verloren ging. Auffällig ist jedoch, dass sein Abschalten zeitgleich auf verschiedenen Kontinenten stattfand, was für einen globalen Auslöser wie Umweltfaktoren oder einen Erreger sprechen könnte. Diesen Aspekt wollen die Forscher nun in einem nächsten Schritt näher untersuchen.

(idw – Universität Leipzig, 17.06.2010 – DLO)

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