Ein internationales Team von Wissenschaftlern aus den USA, Kanada, Japan und Deutschland hat jetzt das Erbgut des einfachsten Vielzellers, Volvox carteri, entschlüsselt. In „Science“ berichten die Forscher wie dieser Modellorganismus, ein kleiner kugelförmiger Tümpelbewohner, dazu beiträgt, die Evolution von Einzellern zu Vielzellern auf molekularer Ebene zu verstehen.
Wie entwickelt sich aus einem Einzeller ein Vielzeller? Bei Einzellern müssen alle „Lebensleistungen“ von ein und derselben Zelle erbracht werden, da nur eine Zelle den gesamten Organismus bildet. Eine der größten Leistungen in der Evolution komplexer Lebewesen war der Übergang von der Ein- zur Vielzelligkeit mit verschiedenen Zelltypen. Bei vielzelligen Organismen, wie dem Menschen, bilden viele Zellen eine Gemeinschaft, bei der eine Arbeitsteilung und Spezialisierung der Zellen stattfindet. Herauszufinden wie sich Einzeller im Laufe der Evolution zu Vielzellern entwickeln können, ist eine zentrale Frage in der biologischen Forschung.
Was macht Volvox einzigartig?
Was macht in diesem Zusammenhang die Grünalge Volvox so interessant? Volvox ist der denkbar einfachste Vielzeller und besteht nur aus zwei verschiedenen Zelltypen, was viele molekulare Untersuchungen erleichtert. Volvox besitzt 2.000 kleine, begeißelte Körperzellen, die den funktionellen Organismus aufbauen und 16 große, reproduktive Zellen aus denen die nächste Generation entsteht. Darüber hinaus hat Volvox einen sehr nahen, einzelligen Verwandten: Die Grünalge Chlamydomonas. Dieser glückliche Umstand erlaubt es den Forschern, die beiden Organismen auf molekularer Ebene zu vergleichen.
Volvox als Modellsystem
Zudem haben die evolutionären Veränderungen bei der Entwicklung von Volvox aus einem Chlamydomonas-ähnlichen Urahnen eindeutige Parallelen in anderen vielzelligen Entwicklungslinien. Diese Gründe waren ausschlaggebend dafür, Volvox als Modellsystem für die Untersuchung der Evolution von Vielzelligkeit zu verwenden.
Vor über 300 Jahren wurde Volvox von dem niederländischen Biologen Antoni van Leeuwenhoek zum ersten Mal beschrieben, wobei van Leeuwenhoek diese viellzelligen, kugelförmigen, begeißelten Grünalgen, nicht zuletzt wegen ihres temperamentvollen Schwimmverhaltens, noch als mikroskopische Tierchen – „Animalcules“ – einstufte. Der Name dieser fotogenen Süßwasseralge stammt von dem lateinischen Wort „volvere“ (rollen, wälzen) und bezieht sich darauf, dass Volvox sich während des Vorwärtsschwimmens um die eigene Längsachse dreht. Man findet Volvox in Teichen und Tümpeln fast überall auf der Welt, allerdings bevorzugt im wärmeren Wasser. Mit einem Durchmesser von bis zu zwei Millimeter kann man die Algen leicht mit bloßem Auge erkennen.
Erbgut gibt Geheimnisse preis
Eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern hat nun das Genom von Volvox carteri entschlüsselt. Das Erbgut besteht laut der neuen Studie aus etwa 140 Millionen Basenpaaren und enthält etwa 14.500 Gene, schreiben die Forscher in der Fachzeitschrift Science. Der Mensch hat höchstens 25.000 Gene und somit nicht einmal doppelt so viele Gene wie Volvox.
Nach der Sequenzierung verglichen die Forscher die Sequenz des Genoms der vielzelligen Grünalge mit der Abfolge der DNA-Bausteine beim einzelligen Verwandten Chlamydomonas, der bereits in 2007 sequenziert wurde. Die Forscher wollten herausfinden wie sich das genetische Repertoire des einfachsten Vielzellers von dem des Einzellers unterscheidet.
Nur geringe Unterschiede zwischen Volvox und Chlamydomonas
„Wir waren sehr überrascht, wie gering die Unterschiede zwischen dem Genom des Einzellers Chlamydomonas und dem des Vielzellers Volvox sind“, erklärt der Molekularbiologe und Algenforscher Professor Armin Hallmann von der Universität Bielefeld. „Trotz großer Unterschiede sowohl in der Komplexität beider Organismen also auch in deren Lebenszyklen, haben die Genome beider Organismen ein ähnliches Potenzial zur Codierung von Proteinen. Wir haben nur sehr wenige Gene gefunden, die spezifisch für Volvox sind. Offensichtlich ist die Art und Weise wie und wann die Gene in Proteine übersetzt werden entscheidend; es bedarf nicht zwangsläufig einer dramatischen Erhöhung der Anzahl an Genen um sich von einem Einzeller zu einem Vielzeller entwickeln zu können.“
Die Entschlüsselung des Volvox-Genoms ist ein wichtiger Schritt zum Verständnis des molekularen „Werkzeugkastens“, der der Evolution von Einzellern zu Vielzellern zugrunde liegt. Langfristig soll die Untersuchung molekularer Prozesse bei primitiven Organismen es ermöglichen, auch die Funktionsweise und Entwicklungsgeschichte sehr viel komplexerer Lebewesen, wie den Menschen, besser zu verstehen.
(idw – Universität Bielefeld, 12.07.2010 – DLO)