Paläontologie

Fossiles Nesseltier löst evolutionäres Rätsel

514 Millionen Jahre alter Weichteil-Fund wirft Licht auf frühe, skelettbildende Organismen

Rekonstruktion
Künstlerische Rekonstruktion von Gangtoucunia aspera, wie es vor etwa 514 Millionen Jahren ausgesehen haben könnte. © Xiaodong Wang

Rätselhafte Röhren: Das Meerestier Gangtoucunia aspera war bisher nur als hohle Röhre überliefert, doch neue Funde von 514 Millionen Jahre alten Exemplaren enthüllen, dass es sich um ein primitives Nesseltier handelte. Darauf deuten die versteinerten Weichteile des Tieres hin, einschließlich des Darms und der Mundwerkzeuge. Die Funde liefern somit Hinweise darauf, wie die ersten skelettbildenden Lebewesen aussahen.

Die ersten Tiere, die harte und robuste Skelette bildeten, tauchten vor etwa 550 bis 520 Millionen Jahren „plötzlich“ auf. Zu diesem Zeitpunkt nahm das tierische Leben auf Erden explosionsartig neue Formen an und bildete den Grundstock der heute lebenden Arten. Doch viele Fossilien aus dieser Zeit sind bis heute nicht eindeutig zuzuordnen. Sie sind lediglich als hohle, wenige Millimeter bis Zentimeter lange Röhren überliefert. Nur versteinerte Weichteile können mehr über ihr Aussehen und ihre Beziehung zu heutigen Lebensformen offenbaren, doch die sind selten.

Weichteile überdauerten gut geschützt

Ein Team um Guangxu Zhang von der Yunnan-Universität im chinesischen Kunming hat nun solche Weichteile in Fossilien des Röhren-Tieres Gangtoucunia aspera gefunden. Die Exemplare sind 514 Millionen Jahre alt und sehr gut erhalten, einschließlich des Darms und der Mundwerkzeuge. Das liegt an den besonderen sauerstoffarmen Bedingungen ihres Fundortes in Kunming. Der Sauerstoffmangel hielt vermutlich Bakterien fern, die das Weichgewebe in den Fossilien sonst zersetzt hätten.

Fossil
Fossiles Exemplar von Gangtoucunia aspera (links) und beschriftete Darstellung der erhaltenen Weichteile (rechts). © Luke Parry und Guangxu Zhang

„Als ich das erste Mal das rosa Weichgewebe oben auf einer Gangtoucunia-Röhre entdeckte, war ich überrascht. Im folgenden Monat fand ich drei weitere Exemplare mit erhaltenem Weichgewebe, was mich dazu brachte, die Verwandtschaft von Gangtoucunia zu überdenken“, so Zhang. Zuvor hatten Wissenschaftler die röhrenförmigen Fossilien von Gangtoucunia als Wohnröhre eines aquatischen Wurmes interpretiert. Doch die nun entdeckten Weichteile widersprechen dieser These.

Tentakel für den Beutefang

Den neuen Erkenntnissen zufolge war Gangtoucunia kein Wurm, sondern ein Nesseltier, ein primitiver Vorfahre heutiger Quallen, so die Forscher um Zhang. Darauf deuten zwei anatomische Strukturen hin. Einerseits die glatten, unverzweigten Tentakel des Tieres, die dessen Mund ringförmig und mit einer Länge von etwa fünf Millimetern säumten. Andererseits der geräumige, in mehrere Hohlräume unterteilte Darm. Diese Segmentierung entspricht nicht der eines Wurmes, so die Wissenschaftler.

Das Team identifiziert Gangtoucunia demnach als Polypen mit harter röhrenförmiger Struktur, mit der das Tier sich im Untergrund verankerte. Seine Tentakel ragten wahrscheinlich aus dem Mund der Röhre heraus und fingen dort Beutetiere wie kleine Gliederfüßer. Bei Gefahr konnte der Polyp die Tentakel vermutlich einziehen und sich so schützen. Anders als bei heute lebenden Quallenpolypen bestand die Röhre von Gangtoucunia aus Kalziumphosphat, ebenso wie unsere eigenen Zähne und Knochen.

Geheimnisvolle Röhren

Dass sich Gangtoucunia nun als Nesseltier entpuppt, löst ein großes evolutionäres Rätsel rund um die hohlen Röhren der Vorzeit: „Diese geheimnisvollen Röhren werden oft in Gruppen von hunderten Individuen gefunden, aber bis jetzt hatten wir keine Möglichkeit, sie zu klassifizieren. Dank dieser außergewöhnlichen neuen Exemplare ist ein wichtiges Teil des evolutionären Puzzles an seinen Platz gesetzt worden“, so Zhangs Kollege Luke Perry.

Dennoch lassen sich die Erkenntnisse der Gangtoucunia-Röhren nicht zwingend auf alle Röhrchen übertragen, wie die Forscher einräumen. Andere von ihnen entdeckte Röhren aus demselben Gestein hätten sich am Ende tatsächlich als Meereswürmer herausgestellt. (Proceedings of the Royal Society B Biological Sciences, 2022, doi: 10.1098/rspb.2022.1623

Quelle: Proceedings of the Royal Society B Biological Sciences

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