Das Erfassen von Wörtern läuft wesentlich schneller ab als bisher angenommen: Schon innerhalb einer Hunderstelsekunde, nachdem das relevante Wort als Schall auf das Ohr trifft, zeigen sich im Gehirn die ersten Anzeichen des Verständnisses. Das berichten Forscher im Fachmagazin „Nature“. Sie belegen damit erstmals die bereits in Verhaltensexperimenten beobachtete hohe Geschwindigkeit, mit der das Gehirn Wörter erkennen kann.
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Für ihre Studie spielten die Forscher um Friedemann Pulvermüller von der Freien Universität Berlin und Yury Shtyrov von der MRC Cognition and Brain Sciences Unit in Cambridge ihren Versuchspersonen echte Wörter wie „Schlag“ und sinnlose Silben wie „Schlad“ vor. Im Englischen wurde beispielsweise statt „note“ das Pseudowort „noke“ vorgespielt. Am Anfang der Silben, wenn erst „Schla …“ gehört wird oder „no .“, kann noch nicht mit Sicherheit entschieden werden, ob es sich um ein sinnloses oder sinnvolles Element handelt. Erst mit der Information über den letzten Konsonanten wird klar, dass das sinnvolle Schlag oder das Pseudowort Schlad gemeint ist.
Verstehen im Millisekundentakt
Die Forscher fanden nun heraus, dass schon innerhalb von 50 bis 80 Millisekunden, nachdem die Versuchspersonen zum ersten Mal die Wörter erkennen können, ein Hirnindikator das Wortverstehen anzeigt. Dies ist deutlich früher als eine früher mit Verständnisprozessen oft in Zusammenhang gebrachte Gehirnantwort, die sogenannte N400-Komponente, die erst nach etwa einer halben Sekunde deutlich hervortritt.
„Verhaltensexperimente weisen schon lange darauf hin, dass die menschliche Sprachverarbeitungsmaschine schnell arbeitet“, sagt Pulvermüller. „Hier sehen wir jedoch zum ersten Mal einen physiologischen Beleg, der dies mit Hirnmessungen bestätigt und die unglaubliche Geschwindigkeit präzisiert, mit der unser Gehirn zwischen Sinnvollem und Sinnlosem unterscheidet.“
Die Wissenschaftler konnten in der Studie auch einen anderen Hirnfunktionsindikator bestätigen, der einen Hinweis auf das Sprachverstehen gibt. Er tritt nach 150 bis 200 Millisekunden auf. So zeigte diese Komponente, die auch „semantische Mismatch Negativity“ genannt wird, bei 150 bis 200 Millisekunden an, ob gehörte Handlungswörter etwas mit Mund- oder Fußbewegungen („talking“ oder „walking“) zu tun haben.
Genaue Lokalisierung der Aktivitätsmuster im Gehirn
Die Forscher hatten für ihre Studie eine neue Methode verwendet, die der Magnetenzephalographie und verteilten Quellenlokalisation. Mit der Magnetenzephalographie können kleinste Magnetfelder, die das Gehirn beim Arbeiten produziert, über dem Kopf gemessen werden. Mit der verteilten Quellenanalyse können die zugrunde liegenden Aktivierungsmuster im Gehirn verortet werden. Die zeitliche Präzision dieser Methode ist unübertroffen.
In der Zukunft möchte das Team um Pulvermüller das neue Wissen um schnelles Sprachverstehen auch bei der Therapie von Sprachstörungen nach einem Schlaganfall nutzbar machen: „Die frühen Hirnantworten des Verstehens helfen uns vielleicht bei der Messung von Fortschritten, die Schlaganfall-Patienten mit einem Verlust der normalen Sprachfähigkeit im Laufe von intensiver Sprachtherapie machen.“
(Freie Universität Berlin, 22.03.2012 – NPO)