Mathematische Arbeitsteilung: Unser Gehirn verarbeitet große und kleine Zahlen offenbar getrennt, wie Experimente nahelegen. Demnach werden größere Zahlen in der linken Hirnhälfte verarbeitet, kleinere Zahlen dagegen rechts. Dabei ist jedoch nicht die Zahlengröße an sich das Entscheidende, sondern der Kontext – ob die Zahl im Vergleich zu anderen größer oder kleiner ist, wie die Forscher herausfanden.
Lange Zeit vermutete man, dass unser Gehirn Zahlen nur mit einem Areal in der rechten Hirnhälfte wahrnimmt und verarbeitet. Dieses zieht sich etwa vom Scheitel bis kurz über das Ohr. Doch erst vor kurzem stellten Neurowissenschaftler fest, dass unser Gehirn bei Mathematik doch eine weniger strenge Arbeitsteilung hat als angenommen. Denn auch in der linken Hirnhälfte wird ein kleines Areal beim Anblick von Zahlen aktiv.
Aktive Hirnhälfte beeinflusst Schätzwerte
Qadeer Arshad vom Imperial College London und seine Kollegen haben nun Genaueres darüber herausgefunden, wann welches Areal aktiv wird. Für ihre Studie dämpften sie bei gesunden Probanden zeitweilig die Aktivität einer Gehirnhälfte und regten die andere an. Währenddessen baten sie sie, beispielsweise den Mittelwert zwischen 22 und 76 anzugeben oder die Zahlen auf einem Uhrenzifferblatt zu zeichnen.
„Wenn wir die rechte Seite des Gehirns aktivierten, wählten die Teilnehmer kleinere Zahlen“, berichtet Arshad. „Nach dem Mittelwert von 50 bis 100 gefragt, sagten sie beispielsweise 65 statt 75.“ Wurde umgekehrt die linke Hirnhälfte stimuliert, nannte die Versuchspersonen eine Zahl oberhalb von 75. „Das zeigt, dass die linke Seite größere, die rechte kleiner Zahlen verarbeitet“, so der Forscher.
Der Kontext entscheidet
Allerdings ist dabei nicht der Zahlenwert an sich, sondern der Kontext entscheidend. „Wenn jemand den Zahlenraum von 50 bis 100 anschaut, wird die Zahl 80 in der linken Hirnhälfte verarbeitet“, erklärt Arshad. „Wenn er aber den Zahlenraum von 50 bis 300 sieht, ist 80 eine vergleichsweise kleine Zahl und wird daher rechts verarbeitet.“
Ähnliches beobachteten die Forscher bei der Aufgabe mit dem Uhrenziffernblatt: War bei ihren Probanden die rechte Hirnhälfte aktiviert, zeichneten sie die Zahlen 1 bis 6 größer und mit mehr Abstand, war die linke Hälfte aktiver, wurden dagegen die Zahlen 6 bis 12 größer dargestellt. „Das spricht dafür, dass die kleineren Zahlen auf dem Ziffernblatt rechts verarbeitet werden, die höheren Uhrzeiten aber links“, erklärt Arshad.
Unabhängig von räumlicher Position
Wie die Forscher betonen, hat dies nicht einfach nur räumlichen Ursachen. Denn schon früher vermutete man, dass bei Zahlenreihen auch eine Rolle spielt, wo auf dem Zahlenstrang eine Zahl steht – weiter rechts oder weiter links. Der Grund dafür: Weil unser Gehirn visuelle Informationen aus der rechten Hälfte des Gesichtsfelds links verarbeitet und umgekehrt, könnte dies auch beeinflussen, wo im Gehirn die gesehene Zahl verarbeitet wird.
Doch in ihrem Experiment wählten die Forscher die Versuchsbedingungen so, dass dieser räumliche Effekt ausgeschlossen wurde. „Diese erlaubte es uns, erstmals zu demonstrieren, dass die Größenzuordnung von Zahlen unabhängig von Augenbewegungen oder räumlicher Aufmerksamkeit von verschiedenen Gehirnhälften übernommen wird“, so Arshad und seine Kollegen. Sie vermuten, dass sich im Normalfall beide Effekte überlagern.
Selbsttest für Jeden
Übrigens kann jeder die Arbeitsteilung seines Gehirns selbst auf die Probe stellen: Weil bei den meisten Menschen eine Gehirnhälfte dominanter ist als die andere, macht sich dies auch beim Schätzen von Mittelwerten bemerkbar: „Wenn jemand Sie fragt, wo der Mittelwert von 22 und 46 liegt und Sie schätzen den Wert zu hoch ein, dann haben Sie wahrscheinlich eine aktivere linke Hirnhälfte“, so Arshad. „Sie können das mehrfach mit verschiedenen Zahlen ausprobieren und so herausfinden, welche Hirnhälfte bei Ihnen dominanter ist.“
Die neuen Erkenntnisse könnten aber auch erklären, warum Schlaganfall-Patienten je nach Lage des geschädigten Hirnbereichs manchmal nur Probleme mit größeren oder aber kleineren Zahlen haben. „Wenn wir verstehen, wie unser Gehirn Zahlen verarbeitet, können wir in solchen Fällen gezieltere Therapien und Rehabilitations-Methoden entwickeln“, erklärt Arshad. „Die nächste Stufe ist es dann herauszufinden, wie unser Gehirn komplexe Berechnungen verarbeitet.“ (Cerebral Cortex, 2016; doi: 10.1093/cercor/bhv344)
(Imperial College London, 07.03.2016 – NPO)