Mikrobiologie

Rätsel um genetische „Borg“

Lange Fäden assimilierter DNA in Einzellern ähneln keiner bekannten Lebensform

Archaeen
In solchen rundlichen Archaeen haben Biologen neuartige, noch rätselhafte Fremd-DNA entdeckt – lange Doppelstränge aus Genen, die von verschiedenen Organismen stammen. © Jenny Nuss/Berkeley Lab

Assimilierte Gene: In methanfressenden Einzellern haben Forschende nie zuvor gesehene genomische Strukturen entdeckt. Diese „Borg“ getauften Einheiten bestehen aus langen DNA-Strängen, die offenbar von verschiedensten Organismen assimiliert wurden. Teilweise enthalten sie dadurch mehr Gene als das Erbgut ihrer Wirtszelle. Die „Borg“ ähneln keinem bisher bekannten Zellorganell, Virus oder Plasmid. Ihre Fähigkeit zur Assimilation deutet aber darauf hin, dass sie zwischen Zellen wechseln und die Fähigkeit zum Gentransfer besitzen, wie das Team in „Nature“ berichtet.

„Wir sind die Borg, Sie werden assimiliert, Widerstand ist zwecklos“: In der Serie „Star Trek“ sind die Borg außerirdische Wesen, die alle ihnen begegnenden Lebensformen assimilieren. Ihre Opfer werden dem Borg-Kollektiv angegliedert und damit auch Teil des Schwarmbewusstseins. So weit, so fiktiv.

Probennahme
Probennahme im East River in Colorado – im Sediment dieses Flusses wurden die ersten Archaeen mit Borgs entdeckt. © Roy Kaltschmidt/ Berkeley Lab

Fremd-DNA aus bis zu einer Million Basenpaaren

Doch es gibt auf unserem Planeten offenbar Entitäten, die ähnlich drastisch assimilieren wie die Borg – wenn auch nur auf genetischer Ebene. Entdeckt haben dies Basem Al-Shayeb von der University of California in Berkeley und seine Kollegen, als sie methanfressende Archaeen der Gattung Methanoperedens aus sauerstoffarmen Gewässersedimenten untersuchten. Anders als Eukaryoten besitzen die einzelligen Archaeen keinen Zellkern, ihr Erbgut liegt stattdessen als ringförmiges DNA-Molekül frei im Zellplasma.

Umso ungewöhnlicher war es deshalb, dass sich in den untersuchten Archaeen noch eine andere genomische Strukturen fand: Neben dem DNA-Ring entdeckten die Forschenden noch eine lange, doppelsträngige DNA-Struktur. Dieser Strang bestand aus bis zu einer Million Basenpaaren und enthielt sowohl Gene als auch kopierte und umgekehrte Genabschnitte. „Einige dieser extrachromosomalen genetischen Elemente könnten mehr DNA enthalten als das Erbgut ihrer Wirtszelle“, berichten Al-Shayeb und sein Team. „Sie sind größer als alle ringförmigen Plasmide, die häufiger in bestimmten Bakterien und Archaeen gefunden werden.“

Zudem enthalten die neuartigen linearen DNA-Strukturen deutlich mehr Gene als für Plasmide typisch. „Wir können sie weder als Plasmide, noch als Viren oder Minichromosomen klassifizieren – noch dies komplett ausschließen“, so das Team.

19 verschiedene Sorten – mindestens

Weitere Untersuchungen enthüllten, dass der Fund dieser DNA-Strukturen kein Einzelfall ist: Auch in weiteren methanfressenden Archaeen aus dem Boden, aus Flussbetten und dem Grundwasser entdeckten die Wissenschaftler diese neuartigen Erbgut-Stränge. Diese ließen sich aufgrund ihrer DNA-Sequenz in 19 verschiedene Sorten gliedern – einige waren sich bis auf bestimmte Abschnitte ihres Strangs sehr ähnlich, andere hatten weniger als 50 Prozent ihrer DNA gemeinsam.

Vergleiche mit den Wirtszellen ergaben zudem, dass diese fädigen Strukturen keine bloßen Kopien des Wirtszell-Erbguts darstellen. Nur ein kleiner Teil der DNA stimmte mit der der jeweiligen Wirtszelle überein. Der Rest ähnelte eher einer bunten Mischung von Genen und Genteilen aus verschiedensten Organismen. „Zwar wurden einzelne Teile dieser extrachromosomalen genetischen Elemente schon vorher in mikrobiellen Genomen, in Plasmiden oder Viren dokumentiert, aber die Kombination der Merkmale in diesen riesigen Strukturen ist einzigartig“, so die Forschenden.

Assimilierte Gene

Doch um was handelt es sich? „Diese rätselhaften genetischen Elemente unterscheiden sich von allem, was man bisher kannte“, konstatieren Al-Shayeb und seine Kollegen. Weil diese neuartigen Strukturen offenbar Gene verschiedenster Lebewesen und Erbgutformen in sich vereinen, haben sie ihre Entdeckung „Borgs“ getauft – nach den assimilierungsfreudigen Aliens aus „Star Trek“. „Dieser Name reflektiert ihre Neigung, Gene von anderen Organismen zu assimilieren“, so das Team.

Warum die genomischen Borg so viele verschiedene Gene tragen und woher diese stammen, ist noch unbekannt. „Unabhängig von ihrem Ursprung ist aber klar, dass die Borg schon sehr lange Zeit mit diesen Archaeen koexistieren“, erklären die Biologen. Die Genmischung der Borg spricht zudem dafür, dass die Gebilde Gene aufnehmen und sie möglicherweise auf andere Wirtszellen übertragen können. „Es gibt auch Hinweise darauf, dass manchmal verschiedene Arten von Borg in derselben Wirtszelle koexistieren“, sagt Al-Shayebs Kollegin Jillian Banfield.

Relikt einer gescheiterten Endosymbiose?

Möglicherweise, so eine Hypothese der Forschenden, handelt es sich bei den Borg um Relikte einer gescheiterten Endosymbiose. Dabei nehmen Zellen andere Mikroorganismen in sich auf und es entwickelt sich eine beiderseitige Vorteilsgemeinschaft. Im Extremfall wird sie so eng, dass der Juniorpartner seine Selbstständigkeit verliert und zum bloßen Zellorganell wird – so könnten einst die Mitochondrien der eukaryotischen Zellen und die Chloroplasten der Pflanzenzellen entstanden sein.

Nach Ansicht von Al-Shayeb und seinem Team könnte bei den Borg Ähnliches passiert sein: Vielleicht waren diese DNA-Fäden einst das Erbgut von Viren oder anderen Archaeen, die von den Methanoperedens-Archaeen aufgenommen wurden. Das könnte auch erklären, warum die Borg viele Gene enthalten, die auch von ihren Wirtszellen zur Verarbeitung von Methan genutzt werden: Möglicherweise nahmen die Archaeen diese Gebilde einst in sich auf, um ihre Methanverarbeitung anzukurbeln.

„Stellen Sie sich eine Zelle vor, die Methan konsumieren kann. Jetzt fügt man ihr genetische Elemente hinzu, die parallel dazu ebenfalls Methan verarbeiten können“, erklärt Koautor Kenneth Williams vom Lawrence Berkeley National Laboratory in Berkeley. „Das verleiht dieser Zelle eine erhöhte Kapazität – ihre Methanverarbeitung läuft dadurch gewissermaßen wie auf Speed.“

Viele offene Fragen

Ob die Präsenz der Borg ihren Wirtszellen tatsächlich zu einer besseren Methanverarbeitung verhilft, ist aber noch unklar. Auch welche anderen Vor- oder Nachteile diese genomischen Gebilde mit sich bringen und ob sie vielleicht noch bei anderen methanfressenden Archaeen vorkommen, bleibt vorerst ungeklärt.

Mehr Informationen darüber könnten die Biologen erhalten, wenn es ihnen gelingt, die Wirts-Archaeen der Gattung Methanoperedens im Labor zu kultivieren. Denn dann könnten sie die Borg erstmals in Aktion beobachten. Bis es jedoch soweit ist, bleiben diese neuartigen Strukturen ein Rätsel. (Nature, 2022; doi: 10.1038/s41586-022-05256-1)

Quelle: DOE/Lawrence Berkeley National Laboratory

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