Vom Mensch bis zum einfachsten Vielzeller nutzen alle Tiere wahrscheinlich das gleiche System, um ihre Zellen mit Sauerstoff zu versorgen. Das hat jetzt ein deutsch-britisches Forscherteam herausgefunden. Sie entdeckten den Mechanismus bei einem primitiven Vielzeller und belegen, dass er auch bei uns Menschen noch genauso genutzt wird. Das wiederum deutet darauf hin, dass das System schon vor 550 Millionen Jahren entstand.
Für jeden Vielzelligen Organismus ist es lebenswichtig, dass jede Zelle ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird. Dabei sind Vielzeller stärker gefordert als einzellige Organismen. Viellzellig zu sein, bedeutet, dass der Sauerstoff auch zu Zellen gelangen muss, die sich nicht an der Oberfläche des
Organismus befinden. Wie und wann dies erstmals geschah, war bisher unklar. Jetzt haben Forscher der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) und der Universität Oxford in diesem Zusamenhang eine physiologische Gemeinsamkeit zwischen Menschen und dem einfachsten aller Vielzeller, Trichoplax adhaerens, aufgedeckt:
Nur fünf Zellarten aber gleiche Sauerstoffversorgung
Trichoplax, ein einfach strukturierter Organismus ohne Organe und mit nur fünf verschiedenen Zellarten setzt für die überlebenswichtige Messung des Sauerstoffgehaltes das so genannte HIF-System (hypoxia induced factor system) ein. Dieses ist ein effektives Werkzeug, um sich gegen Sauerstoffstress zu schützen – und eines, das vermutlich von allen Tieren beibehalten wurde. Das HIF-System wird aktiv, wenn Tiere in Sauerstoffstress geraten. „Wir denken, das dies der Motor war, der die Vorfahren von Trichoplax adhaerens dazu trieb, ein System zu entwickeln, das einen Mangel an Sauerstoff in jeder Zelle misst und in der Lage ist, darauf zu reagieren“, erklärt Professor Chris Schofield von der Oxford Universität.
Um zu beweisen, dass Trichoplax tatsächlich den gleichen Mechanismus nutzt, wie wir Menschen, transferierten die Forscher das Schlüsselenzym des Mechanismus in eine menschliche Zelle – mit dem Ergebnis, dass sie genauso gut wie mit dem menschlichen Enzym funktionierte. Da die Analyse verschiedener Genome zudem ergeben hat, dass der Mechanismus nur bei Vielzellern auftritt, schlussfolgern die Wissenschaftler, dass sich das System zur gleichen Zeit wie die frühesten vielzelligen Tiere entwickelt hat, vor rund 550 Millionen Jahren.
Entstehung vor 550 Millionen Jahren
„Für unser Verständnis der Evolution kann diese Entdeckung von großer Bedeutung sein“, erklärt Professor Bernd Schierwater, Leiter des Instituts für Tierökologie und Zellbiologie der TiHo. „Wir gehen davon aus, dass vor 550 Millionen Jahren die ersten komplexeren tierischen Lebewesen entstanden sind, zur gleichen Zeit stieg der Gehalt des atmosphärischen Sauerstoffs auf dem Planeten stark an, von drei Prozent auf sein heutiges Niveau von 21 Prozent. Unsere aktuellen Arbeiten können dazu beitragen, den Zusammenhang dieser Ereignisse besser zu verstehen.“
Dieses Verfahren ermöglicht es Säugetieren und Menschen auch bei niedrigem Sauerstoffniveau oder bei Sauerstoffmangel (Hypoxie) zu überleben. Beim Menschen beispielsweise wird das HIF-System in großen Höhen oder bei körperlicher Anstrengung aktiv. Außerdem ist es sehr wichtig für die Prävention von Schlaganfällen und Herzinfarkten sowie einige Arten von Krebs.
(Tierärztliche Hochschule Hannover, 27.12.2010 – NPO)