Eine der größten Rentierherden der Erde ist dramatisch geschrumpft, wie Bestandsaufnahmen kanadischer Forscher ergeben haben. Von den einst 800.000 bis 900.000 Rentieren am kanadischen George River waren im Sommer 2012 nur noch 27.600 Tiere übrig. Für diesen Rückgang wird eine ganze Reihe von Faktoren verantwortlich gemacht, darunter auch die Erkundung neuer Erzvorkommen in der Region. Minister der Regierung in Ottawa bezeichneten die Entwicklung als „schwerwiegend und beängstigend“.
Das Rentier, das in Nordamerika als Karibu bekannt ist, spielt für das Leben und die Kultur vieler indigener Völker, die in subarktischen Regionen leben, eine entscheidende Rolle. Noch vor einigen Jahren galt die Population der Rentiere am George River in der Provinz Quebec als eine der größten der Welt. Die wildlebende Herde zieht jeden Herbst den Fluss entlang nach Süden und im Frühjahr nach Norden. Nach Schätzungen der kanadischen Naturschutzbehörden umfasste diese Population noch vor einigen Jahren 800.000 bis 900.000 Rentiere. Im Oktober 2010 hatte dann eine Zählung im Auftrag der kanadischen Regierung nur noch 74.000 Rentiere am George River ausfindig gemacht.
Die jüngste Zählung vom Juli 2012 bestätigt nun den dramatischen Rückgang: „Der Umfang der Herde wird gegenwärtig auf noch 27.600 Tiere geschätzt“, heißt es auf der Website des Ministeriums für Naturressourcen. Dies entspreche einem Rückgang um 63 Prozent innerhalb der beiden vergangenen Jahre. Die Genauigkeit dieser Schätzungen liege bei rund zehn Prozent und sie damit relativ hoch. Nach Angaben der Behörde könnte die Zahl der Karibus bis zum Herbst sogar noch weiter auf wenig er als 25.00 Tiere gesunken sein. Diese Ergebnisse bestätigten den bereits seit einigen Jahren beobachteten Rückgang der wilden Karibus am George River.
Innuit oder Erz-Abbau?
Einige Biologen machen für den Rückgang der Rentierherde die in dieser Region lebenden Innuit und ihre Jagdaktivitäten verantwortlich. Die Inuit allerdings, deren Vorfahren über Tausende von Jahren friedlich mit den Karibus zusammen lebten, weisen den Vorwurf entschieden zurück. „Die Regierung macht stets die Indigenen verantwortlich, aber wir stehen in einer tiefen Verbindung mit den Karibus und haben über Generationen mit ihnen zusammen gelebt“, erklärt George Rich, Ältester der im Nordosten Kanadas lebenden Inuit, gegenüber der Entwicklungsorganisation Survival International.
Nach Ansicht der Ureinwohner ist vielmehr der anhaltende Bergbau und die Erkundung neuer Erzvorkommen schuld am Verschwinden der Karibus. „So hat beispielsweise das Unternehmen Quest Minerals vor kurzem angekündigt, dass es eine Straße mitten durch das Gebiet bauen wolle, in dem die Rentiere kalben“, sagt Rich. „Außerdem fliegen Hubschrauber und Flugzeuge die Erkundungsstätten an und wieder zurück.“ Die Förderung von Industrieprojekten auf Rentier-Land durch die kanadische Regierung habe zur Zerstörung großer Teile der Weidegründe der Tiere geführt. Die Wanderrouten der Rentiere seien massiv gestört worden.
Viele Inuit fordern eine stärkere Kontrolle über ihre Territorien und die dortigen Ressourcen. Sie wollen gleichberechtigt behandelt werden, wenn es um Entscheidungen geht, die ihr Land und die auf diesem lebenden Tiere betreffen. Die kanadischen Behörden wollen als Reaktion auf den Rentier-Rückgang einen Managementplan aufstellen, der Maßnahmen zur Wieder-Aufstockung der Herde koordiniert.
(Survival International / Ministère des Ressources naturelles et de la Faune, 17.12.2012 – NPO)