Massengrab Messel? In der Grube Messel bei Darmstadt finden sich ungewöhnlich viele Fossilien von urzeitliche Fledermäusen – über 500 solcher Relikte wurden in den letzten gut vier Jahrzehnten dort entdeckt. Doch wie sind die geflügelten Säuger vor 48 Millionen Jahren zu Tode gekommen? Haben Umweltkatastrophen wie Algenblüten oder giftige Gase sie in Massen dahingerafft oder gibt es einen anderen Grund für die große Menge an Fossilien? Paläontologen könnten nun die Antwort darauf gefunden haben.
Die Grube Messel bei Darmstadt ist ein einzigartiges Fenster in die Vergangenheit. Vor 48 Millionen Jahren befand sich dort ein tropischer Maarsee. Was in dessen sauerstoffarme Tiefen hinabsank, ist heute als einzigartige, detaillierte Fossilienwelt erhalten. Dazu zählen Blätter ebenso wie Schildkröten, Krokodile, Schlangen und sogar Urpferde und Primaten. Von den Messel-Bewohnern sind teilweise sogar Federn, Fell, Mageninhalt und andere Weichteile erhalten.
Mysteriöses Massensterben
Auch Fledermäuse sind im Ölschiefer der Grube Messel verewigt – und zwar in überraschend großen Mengen. Zwischen 1975 und 2016 haben Paläontologen bei Ausgrabungen im Gebiet des ehemaligen Maarsees über 500 fossile Fledermäuse gefunden. Die meisten von ihnen sind als vollständiges Skelett erhalten und gehören der Spezies Palaeochiropteryx tupaiodon an. Warum aber haben so viele von ihnen im Wasser des Sees den Tod gefunden?
„Aktuell gibt es zwei Hypothesen zur Erklärung, wie es zu den vielen Fossilien in den Messel-Gesteinsschichten kam: das Einatmen giftiger Gase wie Kohlendioxid, die über dem See schwebten und zur Betäubung mit anschließendem Ertrinken der Tiere führte, und alternativ das Trinken von Oberflächenwasser, das mit den Giften von Cyanobakterien kontaminiert war und daher zum Tod führte“, erklärt Krister Smith vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum in Frankfurt am Main.
Poolbesitzer als Forschungshelfer
Diese Erklärungsansätze klingen zwar auf den ersten Blick plausibel, doch es gibt eine große Ungereimtheit: Wären die Fledermäuse schubweise durch Ausgasungen oder giftige Algenblüten umgekommen, dann müsste es Schichten im Ölschiefer geben, in denen sich die Fledermaus-Fossilien türmen, und solche, in denen sie weitgehend fehlen. Doch die Fossilien wurden über die Jahre, die der See bestand, sehr gleichmäßig abgelagert. Heißt das also, die Fledermäuse sind nicht durch eine Katastrophe gestorben, sondern weil sie durch unglückliche Flugmanöver im See ertrunken sind?
Um diesem Szenario nachzugehen, haben Smith und seine Kollegen einen eher unkonventionellen Ansatz gewählt und US-amerikanische Poolbesitzer dazu befragt, wie häufig sie ertrunkene Fledermäuse in ihrem Schwimmbecken vorfinden. Auf diese Weise ermittelte das Team eine ungefähre natürliche Sterberate für Fledermäuse in kleinen Gewässern und konnte diese dann mit der Sterberate in Messel abgleichen.
Doch keine Todesfalle
Das Ergebnis: Im Schnitt fanden die Befragten pro Jahr zwei tote Fledermäuse in ihrem Pool vor. Ein ländliches Schwimmbecken in Florida hatte sogar 14 ertrunkene Fledermäuse zu vermelden. Wahrscheinlich waren die Fledermäuse dort ins Wasser gefallen, als sie gerade daraus trinken oder knapp über der Oberfläche nach Insekten jagen wollten.
Nach Ansicht der Paläontologen könnte es auch den Palaeochiropteryx-Fledermäusen in Messel ähnlich ergangen sein. Denn den Ablagerungsmuster der Fossilien zufolge sind pro Jahr wahrscheinlich sechs bis neun von ihnen im Wasser des Kratersees gestorben und damit ähnlich viele wie heute durchschnittlich in Pools. Das würde eindeutig gegen Umweltkatstrophen wie giftige Gase oder Algenblüten als Todesursache sprechen, wie Smith erklärt:
„Wenn wir alle unsere Ergebnisse verbinden, zeigt sich, dass die jährliche Fledermaussterblichkeit am Messeler See in der gleichen Größenordnung wie die Sterblichkeit in modernen Swimmingpools liegt. Unsere quantitativen Analysen liefern keine Hinweise darauf, dass die Fledermaussterblichkeit in Messel über ein ‚normales‘ Unfall-Niveau hinausgeht – der Messel-See kann demnach nicht als ‚Todesfalle‘ für die fliegenden Säuger oder andere Tiere bezeichnet werden.“
Fledermäuse im Auftriebstest
Die Paläontologen halten es jedoch für möglich, dass der Messeler Maarsee pro Jahr deutlich mehr Opfer gefordert hat als es der durchschnittliche Pool heute tut. „Natürlich kann der Messel-See nicht direkt mit privaten Pools gleichgesetzt werden: Er war viel größer, es gab während des Treibhausklimas im Eozän schwere Unwetter und der See war – anders als einige Schwimmbecken – ganzjährig verfügbar. Mit anderen Worten: Wir gehen davon aus, dass diese Faktoren sogar eine noch höhere Sterblichkeit bei Fledermäusen, die den See zum Trinken aufsuchten, verursachen konnten“, erklärt Smith.
Außerdem sind wahrscheinlich längst nicht alle Fledermäuse, die einst im Messeler See ertrunken sind, heute auch als Fossilien erhalten. Um herauszufinden, unter welchen Bedingungen aus einer ertrunkenen Fledermaus ein Fossil werden konnte, testeten die Wissenschaftler den Wasser-Auftrieb von Fledermauskadavern aus dem Frankfurter Zoo. Die Tiere waren zuvor in ihrem Gehege gestorben und nicht extra für das Experiment getötet worden. Um den Tod durch Ertrinken zu simulieren, füllten Smith und sein Team die Lungen einiger Fledermäuse mit Wasser, während andere Kadaver luftgefüllte Lungen beibehielten.
Messeler See muss tief gewesen sein
Dabei zeigte sich: Fast die Hälfte aller „ertrunkenen“ Tiere, aber nur ein Drittel der unbehandelten Exemplare sank vollständig auf den Boden des Versuchsbehälters oder trieb mit dem Kopf nach unten unter Wasser. Geschah das in flachem Wasser, kehrten die Kadaver nach einer gewissen Zeit allerdings aufgrund von Verwesungsgasen wieder zurück an die Oberfläche. Um zum Fossil zu werden, hätten die Palaeochiropteryx-Fledermäuse aber unten bleiben müssen.
Nach Ansicht der Forschenden konnte die Versteinerung nur ablaufen, wenn die Tiere in sehr tiefes Wasser wie die Seemitte gestürzt waren, das sie aufgrund des hohen Wasserdrucks trotz Gasentwicklung unten hielt. „Der Messeler See muss also eine ordentliche Tiefe gehabt haben, sonst würden wir nur noch zerfallene Skelette vorfinden,“ sagt Smith. (Palaeobiodiversity and Palaeoenvironments, 2024; doi: 10.1007/s12549-024-00631-4)
Quelle: Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung