Wie ist das kleine, genarme Y-Chromosom entstanden? Dazu haben Forscher nun eine neue Theorie aufgestellt. Während die gängige Lehrbuchmeinung davon ausgeht, dass sexuelle Selektion der treibende Faktor war, betont das neue Modell die Rolle der Genregulation. Sie könnte bestimmte Merkmale in der Entwicklung der Geschlechtschromosomen besser erklären als die klassische Theorie, wie die Forscher in der Fachzeitschrift „Science“ berichten.
Bei vielen zweigeschlechtlichen Arten hängt das biologische Geschlecht davon ab, ob ein bestimmtes Chromosom vorhanden ist oder nicht. Bei Säugetieren etwa haben Männchen ein X- und ein Y-Chromosom, Weibchen dagegen zwei X-Chromosomen. Im Laufe der Evolution ist das männliche Y-Chromosom dabei immer kleiner geworden und hat fast 90 Prozent seiner Erbinformationen verloren. Auch wenn die Ansicht, das Y-Chromosom würde mit der Zeit aussterben, inzwischen als widerlegt gilt, ist nach wie vor unsicher, wie und warum es sich zu einer degenerierten Form entwickelt hat.
Lehrbuchtheorie mit Schwächen
Thomas Lenormand von der Universität Montpellier und Denis Roze von der Sorbonne Universität in Paris stellen nun die klassische Lehrbuchtheorie zur Entstehung und Entwicklung des Y-Chromosoms in Frage und postulieren eine neue Theorie. „Laut der bisherigen Theorie entstand das Y-Chromosom, nachdem sich darauf das geschlechtsbestimmende Gen gebildet hat, in drei Schritten“, erklären die Forscher.
Als erstes seien in der Nähe des geschlechtsbestimmenden Gens durch zufällige Mutationen weitere Gene entstanden, die für Männer einen Vorteil darstellen, für Frauen dagegen von Nachteil sind – sogenannte sexuell antagonistische Gene. Die Selektion hätte deshalb Varianten gefördert, in denen die Rekombination, also der Genaustausch, zwischen dem urtümlichen Y-Chromosom und dem urtümlichen X-Chromosom unterdrückt wurde.
Wie es laut Lehrbuch zur Degeneration kam
Im zweiten Schritt sollen sich der gängigen Theorioe zufolge im Y-Chromosom schädliche Mutationen angehäuft haben. Während solche Mutationen beim X-Chromosom schnell wieder verschwinden, da es sich bei Frauen mit einer weiteren Kopie austauschen kann, ist dies beim Y-Chromosom, dem ein Gegenstück für die Rekombination fehlt, nicht der Fall. Die Folge ist eine genetische Degeneration, bei der Gene, die durch Mutationen unbrauchbar geworden sind, mit der Zeit verschwinden.
Durch die Degeneration des Y-Chromosoms ist die Genexpression bei Männern geringer als bei Frauen, was als Ausgleich eine sogenannte Dosiskompensation gefördert hat: Durch Mechanismen der Genregulation wird die Balance wiederhergestellt, indem entweder bei Männern das eine X-Chromosom besonders stark abgelesen wird, oder bei Frauen eines der beiden X-Chromosomen deaktiviert wird.
Entwicklung ohne sexuell antagonistischen Selektionsdruck?
Doch die Grundlage dieser Lehrbuchtheorie steht auf wackeligen Beinen: „Trotz jahrzehntelanger Untersuchungen fehlen entscheidende Beweise für eine kausale Rolle von sexuell antagonistischen Genen bei der Unterbrechung der Rekombination“, schreiben Lenormand und Roze. Außerdem hätten neuere Forschungen gezeigt, dass die Dosiskompensation nicht erst im letzten Schritt auftritt, sondern bereits am Anfang der Entwicklung eine Rolle spielt.
Ihr neues Modell kommt hingegen ohne sexuell antagonistische Gene aus und stellt stattdessen die Genregulation in den Mittelpunkt. Demnach könnte der Austausch zwischen den Vorläufern von X- und Y-Chromosom auch durch zufällig vorkommende Varianten unterbunden werden, ohne einen Selektionsdruck durch sexuell antagonistische Gene. Ebenso wie im klassischen Modell können sich daraufhin auf dem Y-Chromosom Mutationen anhäufen, während Mutationen auf dem X-Chromosom durch den Austausch mit dem Gegenstück schnell wieder ausgemerzt werden.
Genregulation als entscheidender Faktor
Doch wenn der Selektionsdruck fehlt – warum sorgen Rückmutationen nicht dafür, dass doch wieder ein Austausch möglich wird? Laut Lenormand und Roze kommt hier die Genregulation ins Spiel: Auf dem Y-Chromosom werden beschädigte Gene herunterreguliert, um negative Auswirkungen zu minimieren. Das geschieht, indem entsprechende Veränderungen an den regulatorischen Regionen, die ebenfalls auf dem Y-Chromosom liegen, begünstigt werden. Durch positive Feedback-Schleifen wird dieser Prozess verstärkt.
Als Ausgleich dafür übernehmen andere, autosomale Chromosomen einen Teil der Kontrolle: Damit die Genaktivität nicht zu gering wird, kurbeln sie das Auslesen bestimmter Gene auf dem Y-Chromosom an. Das jedoch bringt das Y-Chromosom in eine evolutionäre Sackgasse: Wenn nun das Chromosom wieder Genvarianten entwickelt, die einen Austausch mit dem X-Chromosom fördern, dann könnte dies zu einer Überaktivität führen – weil nun sowohl das Y-Chromosom selbst als auch die externen Faktoren ein Ablesen verstärken.
Umgekehrte Kausalität
„Unser Modell kehrt auch die von früheren Theorien vorgeschlagene Kausalität um, indem es zeigt, dass die Dosiskompensation die Unterdrückung der Rekombination verursachen kann, anstatt eine Folge der Degeneration nach einer solchen Unterdrückung zu sein“, fassen die Autoren zusammen.
In einem Kommentar zu der neuen Theorie, der ebenfalls in der Fachzeitschrift Science erschienen ist, schreiben Pavitra Muralidhar und Carl Veller von der University of California in Davis: Die kommenden Jahre werden für die Biologie der Geschlechtschromosomen aufregend sein, da die vollen theoretischen Implikationen des Modells von Lenormand und Roze herausgearbeitet werden.“ An empirischen Modellen, in denen die Entwicklung von Geschlechtschromosomen nachverfolgt werden können, müsse die neue Theorie geprüft werden. (Science, 2022, doi: 10.1126/science.abj1813)
Quelle: American Association for the Advancement of Science (AAAS)