Kleines Tier, riesiges Genom: Die Gefleckte Schnarrschrecke ist die neue Erbgut-Rekordhalterin – sie hat das größte Genom aller Insekten. Die in den Alpen heimische Heuschrecke besitzt über 21 Milliarden Basenpaare und damit siebenmal mehr als wir Menschen. Warum genau ihr Genom und das einiger anderer Heuschrecken-Arten so groß ist, bleibt jedoch unklar. Die Wissenschaftler vermuten allerdings, dass dynamische Umweltbedingungen einen Einfluss auf die Genomgröße haben könnten.
Tiere unterscheiden sich nicht nur äußerlich voneinander, sondern auch dahingehend, was in ihren Zellkernen steckt. Besonders drastische Unterschiede gibt es bei der Größe des Genoms und damit auch bei der Anzahl der in der DNA enthaltenen Basenpaare und Gene. Während Fruchtfliegen nicht einmal 200 Millionen Basenpaare besitzen, haben wir Menschen immerhin drei Milliarden und der Australische Lungenfisch sogar stolze 43 Milliarden Basenpaare. Warum das so ist und was die Größe des Genoms beeinflusst, ist allerdings bis heute unklar.
Heuschrecken beim DNA-Test
Um das Rätsel zu lösen, bräuchte es die DNA-Sequenzen von so vielen verschiedenen Tieren wie möglich. Doch aktuell kennen wir die Genomgröße von gerade einmal 0,37 Prozent aller bekannten Arten. Forschende um Oliver Hawlitschek vom Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels in Bonn haben diese Datenbank nun ein klein wenig vollständiger gemacht. Im Rahmen einer Heuschrecken-Genomstudie vermaßen sie das Erbgut von 103 Tieren aus 50 Arten, von denen 38 zum ersten Mal dahingehend untersucht wurden.
Heuschrecken sind hinsichtlich ihres Erbguts ein Sonderfall im Insektenreich. Während die meisten Insekten eher kleine Genome besitzen, sind die der Heuschrecken häufig riesig. Hawlitschek und seine Kollegen wollten im Rahmen ihrer Studie herausfinden, warum das so ist und ein besseres Verständnis für regionale und evolutionäre Variationen der Genomgröße bekommen.
Schnarrschrecke mit größtem Insekten-Genom
Dabei haben die Forschenden zufällig einen neuen Rekordhalter im Insektenreich ausfindig gemacht. Denn das Genom der Gefleckten Schnarrschrecke (Bryodemella tuberculata) entpuppte sich als das größte jemals unter den Insekten dokumentierte. Es umfasst 21,48 Milliarden Basenpaare. Die Schnarrschrecke übertrifft damit den bisherigen Rekordhalter, die Asiatische Wüstengrille, nochmal um über zwei Milliarden Basenpaare.
Die vier Zentimeter lange Schnarrschrecke gehört mit ihren leuchtend roten Flügeln zu den auffälligsten, gleichzeitig aber auch seltensten Heuschreckenarten in Mitteleuropa. Mittlerweile ertönt ihr charakteristisches Schnarren hierzulande nur noch an den Oberläufen von Isar und Lech in den Alpen. Die Dynamik der Flüsse sorgt dafür, dass sich diese Lebensräume ständig verändern. Daher vermutet Hawlitschek: „Es könnte sein, dass diese Anpassung an veränderliche Umweltbedingungen die genetischen Variationen und damit auch die Größe des Genoms befördert hat.“
Rätsel der Riesengenome noch nicht gelöst
Doch für diese These haben die Wissenschaftler nach wie vor keine handfesten Beweise. Denn auch ihre Studie konnte nicht final ergründen, warum das Erbgut einiger Heuschrecken so riesig ist. Selbst die Umweltbedingungen, in denen die Tiere leben, stehen offenbar nicht in jedem Fall mit der Genomgröße in Verbindung. So haben Hawlitschek und seine Kollegen unter anderem zwei Heuschreckenarten vermessen, die in Höhlen wohnen. Doch obwohl beide eine ähnliche Chromosomenzahl aufweisen, ist das Genom der einen Art fünfmal so groß wie das der anderen. „Es ist daher schwierig, darüber zu spekulieren, ob die Anpassung an die Höhlenumgebung Auswirkungen auf die Genomgröße hat“, schreibt das Forschungsteam.
Den Wissenschaftler zufolge sind weiterführende, sequenz-basierte Genomstudien nötig, um dem Rätsel der Riesengenome auf die Schliche zu kommen. In Zukunft sollen außerdem mehr Arten aus unterschiedlichen Regionen untersucht werden, denn die aktuelle Stichprobe stammt ausschließlich aus Mitteleuropa. „Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir durch die Untersuchung dieser Extreme auch noch viel über die Funktion unserer menschlichen Genome lernen werden“, so Hawlitschek. (PLOS ONE, 2023; doi: 10.1371/journal.pone.0275551)
Quelle: Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, PLOS ONE