Wer eine schwere Hirnverletzung, eine Gehirnblutung oder einen Schlaganfall überlebt, ist noch nicht über den Berg. Häufig tritt Tage nach dem Ereignis ein weiterer Hirnschaden auf, der nicht selten tödlich verläuft. Die Ursachen dieses Phänomens waren noch nicht vollständig geklärt – bis jetzt. Denn neuen Untersuchungen zufolge könnten Erregungswellen der Hirnrinde, so genannte Cortical Spreading Depolarisations (CSD), dafür mitverantwortlich sein. Dies berichten Experten aus dem Kompetenznetz Schlaganfall im Rahmen der 80. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, die vom 12. bis 15. September in Berlin stattfindet.
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Milliarden von Nerven- und Gliazellen befinden sich eng gepackt in der Rinde unseres Gehirns und sind in unzähligen, komplexen Schaltkreisen miteinander verknüpft. Auf Stress können die Nervenzellen mit einem Zusammenbruch ihres Membranpotentials reagieren, das für die normale Erregbarkeit der Zellen und Impulsgenerierung notwendig ist. Dieser Zusammenbruch einzelner Zellen kann sich unter ungünstigen Bedingungen zu einer Art „Tsunami“ aufbauen, der große Nervenzellverbände erfasst und sich in benachbarte Hirnregionen mit einer Geschwindigkeit von drei Millimetern pro Minute ausbreitet. Eine solche Erregungswelle verbraucht eine enorme Energie, da viele Stoffwechselvorgänge aktiviert werden, um das normale Gleichgewicht wiederherzustellen.
Nach einem Schlaganfall oder einer anderen Hirnverletzung ist aber nicht genügend Energie vorhanden, um die Erregungswelle zu beenden. In dieser Situation leitet die Welle Prozesse ein, die zum irreversiblen Zelltod führen. Die Erregungswellen oder „Cortical Spreading Depolarisations“ (CSD) wurden erstmals 1944 von dem brasilianischen Neurophysiologen Leão in der Hirnrinde von Kaninchen gemessen.
Verengte Gefäße
Die Depolarisationswellen können im Hirn nach den Ergebnissen der Forscher auch dazu führen, dass sich Gefäße der Mikrozirkulation extrem verengen. Dies geschieht zum Beispiel unter dem Einfluss von Blutabbauprodukten auf der Hirnoberfläche. Die Folge: eine Unterbrechung der Energiezufuhr bei gleichzeitigem maximalem Energiebedarf. Dies löst einen Schlaganfall aus, der die Hirnrinde entlangwandert („Cortical Spreading Ischaemia“, CSI). Die CSI vergrößert dann den ursprünglichen Nervenzellschaden – ein so genannter Sekundärschaden ist entstanden.
Das Phänomen der CSI wurde zum ersten Mal 1998 vom Team um Jens Dreier von der Neurologischen Klinik der Charité an Ratten beschrieben. Im Rahmen der COSBID-Studie (Cooperative Study on Brain Injury Depolarisations) wird nun an Patienten mit Hirnverletzungen untersucht, welche Rolle die Erregungswellen bei einer Sekundärschädigung spielen. Erst seit wenigen Jahren ist es möglich geworden, CSDs auch beim Menschen zu messen. Mit Hilfe einer Streifenelektrode werden dazu Hirnstromableitungen (elektrokortikographisch) aufgezeichnet.
„In unserer Studie nahmen Patienten teil, die zuvor eine Blutung unterhalb der Spinnengewebshaut erlitten hatten“, so Dreier, der auch Mitglied im Kompetenznetz Schlaganfall ist. Diese Gewebshaut wird auch als Arachnoidea bezeichnet – sie ist die mittlere der drei Gehirnhäute, in welcher die arteriellen Blutgefäße verlaufen.
CSD unterdrücken
Die Forscher wollten wissen, ob CSDs nach solch einer Spinnengewebshautblutung – auch als Subarach-noidalblutung – kurz SAB bezeichnet – auftreten. Die Untersuchungen ergaben, dass nach einer SAB viele Depolarisationswellen gemessen wurden. „Dies legt nahe, dass die Erregungswellen eine Rolle bei der Entstehung von verzögerten Sekundärschädigungen spielen“, erklärt der Wissenschaftler.
Eine wirksame Unterdrückung von CSD und CSI könnte vermutlich einer regionalen Ausbreitung von Hirnschädigungen entgegenwirken – und damit das Risiko von Langzeitbehinderungen oder sogar tödlichen Verläufen mindern. Weitere Folgestudien zur Erforschung dieser krankhaften Wellen des Gehirns werden durchgeführt.
(idw – Kompetenznetz Schlaganfall, 12.09.2007 – DLO)