Welche Zelltypen gibt es im Gehirn, welche Funktionen haben sie und wie arbeiten sie zusammen? Diese Fragen haben Forscher nun so detailliert wie nie zuvor beantwortet. Im Fachmagazin „Nature“ präsentieren sie einen Atlas des motorischen Kortex bei Säugetieren, der Hirnregion, die unsere Bewegungen steuert. Die Daten stammen aus umfangreichen Untersuchungen an Mäusen, Affen und Menschen. Sie liefern die Grundlage für ein tiefergehendes Verständnis des Gehirns und könnten auch zur Entwicklung neuer Therapien für neuronale Erkrankungen beitragen.
Das menschliche Gehirn besteht aus mehr als 160 Milliarden Zellen, die durch Billionen von Verknüpfungen verbunden sind. Wie genau die Zellen miteinander interagieren, welche Funktionen sie haben und welche Typen es überhaupt gibt, ist allerdings noch unzureichend verstanden. 2013 initiierte der damalige US-Präsident Barack Obama die Brain-Initiative, ein neurowissenschaftliches Großforschungsprojekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, das gesamte menschliche Gehirn zu kartieren.
Erst die Teile verstehen, dann das Gesamtsystem
Nun präsentieren Forscher des Cell Census Network der Brain-Initiative (BICCN) ein erstes großes Ergebnis: Sie haben den gesamten primären motorischen Kortex von Säugetieren kartiert. Dazu untersuchten sie Proben aus den Gehirnen von Mäusen, Marmosett-Affen und Menschen. Um einzelne Zelltypen zu definieren, analysierten sie mit verschiedenen Methoden zahlreiche kennzeichnende Eigenschaften der Zellen: den vollständigen Satz aller aktiven Gene einer Zelle, epigenetische Muster, die definieren, wie die Gene reguliert werden, Form und elektrische Eigenschaften der Zelle sowie ihre Verbindungen mit anderen Zellen.
„Um zu verstehen, wie ein System funktioniert, muss man zunächst eine Übersicht seiner Teile erstellen“, sagt Konsortiumsmitglied Hongkui Zeng vom Allen Institute for Brain Science in Washington. „Dann muss man verstehen, was die einzelnen Teile tun, und die Teile zusammensetzen, um zu verstehen, wie das ganze System funktioniert. Genau das tun wir mit dem Gehirn.“
Hierarchisch, fließend, konserviert
Als ersten Schritt fokussierte sich die Wissenschaftler auf den primären motorischen Kortex, weil diese Hirnregion bei allen Säugetieren ähnlich ist. Tatsächlich bestätigte sich, dass viele Zelltypen von Mäusen über Affen bis hin zum Menschen evolutionär konserviert sind. „Die evolutionäre Kontinuität ist ein starker Beweis für die funktionelle Bedeutung“, schreiben die Forscher. „Die nachgewiesene Übereinstimmung der Zelltypen von Maus, Affe und Mensch deutet darauf hin, dass diese konservierten Typen eine wichtige Rolle in den kortikalen Schaltkreisen und Funktionen bei Säugetieren und sogar bei entfernter verwandten Arten spielen.“
Überdies stellten sie fest, dass die Zelltypen hierarchisch in Klassen und Unterklassen organisiert sind. Wie viele Unterklassen genau es gibt, hängt den Forschern zufolge allerdings von der experimentellen Methode ab: „Während die höheren Ebenen der Hierarchie etwa 25 Unterklassen von Zelltypen umfassen, die mit bemerkenswerter Konsistenz über mehrere Spezies und experimentelle Modalitäten hinweg identifiziert werden, lassen sich viele feinere Ebenen von Zelleigenschaften nicht sauber in voneinander abgegrenzte und in sich konsistente Gruppen von Zelltypen aufteilen“, schreiben sie.
Je nach statistischer Methode ergeben sich zwischen einigen Dutzend und über 100 verschiedene Zelltypen. „Dies ist die bisher umfassendste Beschreibung dieser Zelltypen, und zwar mit hoher Auflösung und unterschiedlichen Methoden“, sagt Co-Autor Dirk Hockemeyer von der University of California in Berkeley.
Fundgrube für zukünftige Forschungen
Aus Sicht der Autoren legt die Kartierung der Zelltypen die Grundlage dafür, Funktionen und Erkrankungen des Gehirns besser zu verstehen. „Eine unserer vielen Einschränkungen bei der Entwicklung wirksamer Therapien für menschliche Gehirnerkrankungen besteht darin, dass wir einfach nicht genug darüber wissen, welche Zellen und Verbindungen von einer bestimmten Krankheit betroffen sind“, sagt John Ngai, Leiter der Brain-Initiative.
„Detaillierte Informationen über die Zelltypen, aus denen das Gehirn besteht, werden letztlich die Entwicklung neuer Therapien für neurologische und neuropsychiatrische Krankheiten ermöglichen.“ Der Vergleich zwischen verschiedenen Spezies könnte zudem dabei helfen, jeweils passende Modellorganismen zu finden, wenn es darum geht, neuropsychiatrische Erkrankungen des Menschen zu erforschen.
In einem Begleitartikel, der ebenfalls in Nature veröffentlicht wurde, kommentiert die Neurowissenschaftlerin Silvia Arber von der Universität Basel: „Die BICCN-Veröffentlichungen stellen eine wahre Fundgrube für künftige Entdeckungen dar. Besonders hervorzuheben sind die Untersuchungen, die zu einem detaillierten Verständnis der Art und Weise führen, wie der motorische Kortex dazu beiträgt, viele Formen der Bewegung zu kontrollieren und zu modulieren.“ (Nature, 2021, doi: 10.1038/s41586-021-03950-0)
Quelle: NIH/National Institute of Mental Health, Allen Institute, University of California – Berkeley