Von wegen gut erforscht: Selbst unter den Säugetieren gibt es wahrscheinlich noch hunderte unentdeckter Arten, wie nun eine DNA-gestützte Modellierung nahelegt. Demnach könnten rund 20 Prozent der Säugetier-Spezies bisher unerkannt geblieben sein. Die meisten davon sind kleine, wenig anspruchsvolle Tiere, viele gehören wahrscheinlich zu den Nagetieren, Fledermäusen und Insektenfressern, wie die Forschenden berichten.
Schon länger ist klar, dass wir Menschen bisher nur einen Bruchteil aller auf der Erde lebenden Organismen kennen. Je kleiner, seltener und exotischer ein Tier oder eine Pflanze ist, desto größer die die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch kein Wissenschaftler zu Gesicht bekommen hat. Doch in letzter Zeit häufen sich auch Entdeckungen neuer Arten bei großen, eigentlich gut sichtbaren Tieren wie den Giraffen, Mausmakis oder sogar Menschenaffen.
Der Grund: Diese Spezies sind den schon bekannten so ähnlich, dass sie rein äußerlich kaum zu unterscheiden sind. Oft zeigen erst DNA-Vergleiche, dass es sich um getrennte Arten handelt.
Bis zu 20 Prozent kryptische Spezies
Doch wie viele solcher kryptischen Arten gibt es unter den Säugetieren? Das haben nun Danielle Parsons und ihre Kollegen untersucht. Dafür werteten sie Millionen Gensequenzen von insgesamt schon bekannten 4.310 Säugetierarten aus und kombinierten sie mit Angaben zur Verwandtschaft, dem Vorkommen, der Lebensweise und gut 100 weiteren Merkmalen dieser Spezies. Daraus entwickelten sie ein Modell, das vorsagt, in welchen Säugetiergruppen sich noch unerkannte Arten verbergen könnten und wie viele.
Das Ergebnis: Höchstwahrscheinlich gibt es noch hunderte von unentdeckten Säugetieren weltweit – nach konservativer Schätzung. Das Team geht auf Basis ihrer Analysen davon aus, dass bis zu 20 Prozent der wahren Artenvielfalt der Säugetiere bisher noch unerkannt geblieben ist. „Das Schockierende daran ist, dass die Säugetiere verglichen mit Käfern, Ameisen oder anderen Tiergruppen sehr gut untersucht sind“, sagt Parsons‘ Kollege Bryan Carstens.
Wo verbergen sich die unerkannten Arten?
Die Modellierung sagt auch voraus, wo sich diese kryptischen Arten am wahrscheinlichsten verbergen. Im Vergleich der verschiedenen Säugetiergruppen stechen demnach vor allem Nagetiere, Fledermäuse und Insektenfresser heraus – allesamt Ordnungen mit eher kleinen, unauffälligen Vertretern. „Das liegt vermutlich daran, dass subtile Unterschiede bei so kleinen Tieren schwerer zu erkennen sind als bei einem großen Tier“, erklärt Carstens.
Und es gibt noch weitere Hinweise: „Verborgene Arten finden sich wahrscheinlicher in Säugetiergruppen, deren Verbreitungsgebiet ein breites Spektrum an Temperatur- und Niederschlagsbedingungen abdeckt“, erklären die Wissenschaftler. Bei einer solchen Spannbreite ergeben sich mehr Möglichkeiten für die Artbildung und Besetzung verschiedener ökologischer Nischen. Ebenfalls hoch ist die Chance für solche kryptischen Säugetiere in den Wäldern der Tropen, die ohnehin Hotspots der Säugervielfalt sind.
Hohe Dunkelziffer auch bei anderen Tiergruppen
Nach Ansicht von Parsons und ihrem Team unterstreichen diese Ergebnisse, wie wenig wir von der Artenvielfalt auf unserem Planeten bisher kennen. „Diese Resultate bestätigen frühere Annahmen, nach denen die taxonomische Bestimmung selbst in gut untersuchten Gruppen wie den Säugetieren alles andere als vollständig ist“, schreiben sie. Das lege nach, dass es in vielen anderen Organismengruppen eine noch weit höhere Dunkelziffer gebe.
Bedeutsam ist dies auch deshalb, weil im Zuge des aktuellen Artensterbens viele Tier- und Pflanzen-Spezies für immer zu verschwinden drohen, ohne dass wir es überhaupt bemerken. Ein Beispiel dafür ist eine erst vor Kurzem in Nordamerika identifizierte Fledermausart, die nur in einem kleinen Gebiet in Nevada vorkommt. Dass sie bedroht ist, blieb zuvor unentdeckt, weil man sie einer weiter verbreiteten Art zugeschlagen hatte.
„Das Wissen um die Artzugehörigkeit ist für den Artenschutz wichtig“, sagt Carstens. „Wir können eine Spezies nicht schützen, wenn wir nicht wissen, dass sie existiert.“ Umso wichtiger sind neue Methoden der Taxonomie wie das DNA-Barcoding, bei denen Genspuren aus Haaren, Kot oder Speichel bei der Identifizierung neuer Spezies helfen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2022; doi: 10.1073/pnas.2103400119)
Quelle: Ohio State University