Menschen können bis zehn zählen, auch ohne die entsprechenden Zahlwörter zu kennen – das zeigt eine neue, in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) veröffentlichte Studie an Kindern zweier Aborigine-Stämme in Australien. Die Ergebnisse legen nahe, dass der Mensch einen angeborenen „Zahlensinn“ besitzt.
„Seit kurzem ist eine extreme Form des linguistischen Determinismus wiederbelebt worden, die behauptet, dass Zahlwörter für Kinder notwendig sind, um ein Konzept der Zahlen ab drei entwickeln zu können”, erklärt Brian Butterworth, Professor für kognitive Neurowissenschaft am University College London. „Nach dieser Theorie braucht man um das Konzept ‚fünf‘ begreifen zu können, ein Wort für fünf. Als Belege dafür werden Beobachtungen von Kindern, aber auch von Erwachsenen aus dem Amazonasgebiet zitiert, deren Sprache keine Zahlwörter beinhaltet.“
Aborigines als Testpersonen
Die Wissenschaftler wollten diese Theorie überprüfen und führten dazu ihre Untersuchung an australischen Aborigines durch. Diese besitzen einen sehr reduzierten Wortschatz für Zahlen und nutzen häufig Gesten als Kommunikationsmittel. Gesten für Zahlwörter gibt es dabei jedoch offenbar nicht. Als Versuchsteilnehmer wählten die Forscher Kinder zwischen vier und sieben Jahren aus zwei indigenen Gemeinschaften, einer am Rand der Tanami Wüste rund 400 Kilometer nordwestlich der Stadt Alice Springs, wo die Sprache Warlpiri gesprochen wird, eine zweite auf Groote Eylandt im Golf von Carpentaria mit Anindilyakwa als Sprache. In beiden Gemeinschaften und Sprachen gibt es Wörter für eins, zwei, wenige und viele. Als Vergleichsgruppe testeten die Wissenschaftler außerdem noch englischsprechende Aborigine-Kinder aus Melbourne.
Klänge und Gegenstände verbinden
„In unseren Aufgaben konnten wir keine Fragen stellen wie: ‚Wie viele?‘ oder ‚Enthalten diese Haufen die gleichen Anzahl von Objekten?‘“, erklärt Butterworth. „Wir mussten daher spezielle kindgerechte Aufgaben entwickeln.” Eine davon bestand darin, dass die Wissenschaftler zwei Hölzer eine bestimmte Anzahl von Malen zusammenschlugen. Die Kinder sollten dann genau so viele Gegenstände auf den Tisch legen, wie sie Holzschläge gehört hatten.
„Auf diese Weise mussten die Kinder mental Anzahlen in zwei unterschiedlichen Modalitäten miteinander verbinden, Klänge und Handlungen, und konnten sich nicht auf visuelle oder akustische Muster allein verlassen“, so der Forscher. „Dadurch mussten sie eine abstrakte Repräsentation von beispielsweise der ‚Fünfheit‘ der Schläge und der Fünfheit der Gegenstände nutzen.“
Fehlende Zahlwörter kein Hindernis
Es zeigte sich, dass die Warlpiri und Anindilyakwa sprechenden Kinder Aufgaben bis neun genauso gut und teilweise sogar besser lösten als die englischsprachigen. „Grundlegende numerische Konzepte scheinen demnach tatsächlich auf einer Art angeborenem Mechanismus zu beruhen“, so Butterwort. „Das hilft auch zu erklären, warum Kinder in Kulturen mit Zahlenwörtern, die unter einer entwicklungsbedingten Dyskalkulie leiden, es so schwer haben, Mathematik zu lernen. Obwohl sie reichlich Möglichkeiten haben, mit Wörtern zählen und rechnen zu lernen, ist ihr angeborener Mechanismus möglicherweise nicht richtig entwickelt.“
(University College London, 20.08.2008 – NPO)