Neurobiologie

Kinder “ticken” anders

Gehirnorganisation unterscheidet sich deutlich und gleicht sich erst im Laufe der Entwicklung an

Wenn Eltern manchmal das Gefühl haben, ihre Kinder „ticken“ komplett anders als sie, dann könnte das wahrer sein als sie bisher glaubten. Denn jetzt hat eine Studie nachgewiesen, dass sich die Struktur der Kinderhirne tatsächlich deutlich von der der Erwachsenen unterscheidet: Bei Kindern sind benachbarte Areale besonders stark verknüpft, bei Erwachsenen dominieren komplexere „Fernnetze“.

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Die meisten Studien zur Entwicklung und Organisation des Gehirns analysieren dieses im aktiven Zustand. Klassischerweise müssen dabei die Versuchspersonen eine bestimmte kognitive Aufgabe durchführen und ihre Gehirnaktivität wird dabei beobachtet. Doch Steven E. Petersen, Professor für kognitive Neurowissenschaft an der Washington Universität und seine Mitarbeiter Damien A. Fair, und Alexander L. Cohen wählten einen komplett anderen Ansatz: Sie analysierten das ruhende Gehirn.

Beobachtung im Ruhezustand

Auch im Ruhezustand zeigen verschiedene Hirnbereiche spontane Aktivität. Hirnforscher gehen heute davon aus, dass Gebiete, deren Aktivität parallel ansteigt oder fällt, auch wahrscheinlich zusammenarbeiten, wenn das Gehirn bei Leistungen gefordert wird. Untersuchungen haben bereits gezeigt, dass es im Gehirn von Erwachsenen vier Netzwerke gibt, die solche kooperierenden Hirnbereiche miteinander verknüpfen. Zwei davon gelten als „Doppelspitze“, die die meisten bewussten Hirnfunktionen kontrollieren.

Aber wie sieht es damit bei Kindergehirnen aus? Genau das wollten die Wissenschaftler mit ihren „Ruheanalysen“ herausfinden. An ihrer Studie nahmen 210 Personen im Alter von sieben bis 31 Jahren teil. „Wir nahmen eine Gruppe der jüngsten Versuchspersonen, analysierten ihre Ergebnisse und ließen dann die Daten der allerjüngsten der Gruppe weg“, erklärt Fair. „Dann wiederholten wir dieses Verfahren mit der nächstältesten Gruppe und führten dies so lange durch, bis wir bei den ältesten angelangt waren. Das Ergebnis war ein detaillierter Film des Übergangs vom Kinder- zum Erwachsenengehirn.“

Von Kurzstreckenbahnen zum Fernnetz

Dieser Film ergab Überraschendes: Denn an Stelle der Netzwerke, die bei Erwachsenen entfernte, aber funktionell verbundene Hirnbereiche miteinander verknüpfen, besitzt das Kindergehirn die stärksten Verbindungen zwischen einander nahe liegenden Arealen. Erst im Laufe der Jugendzeit wandelt sich dieses lokalisierte Netzwerk in das komplexe „Fernnetz“ des erwachsenen Menschen.

Die andere Organisationsform bedeutet jedoch nicht, dass Kinderhirne per se weniger leistungsfähig sind: „Unabhängig davon, wie verführerisch es sein mag, anderes anzunehmen, ist das Gehirn eines normalen Kindes nicht von sich aus desorganisiert oder chaotisch”, erklärt Petersen. „Es ist zwar anders organisiert, aber mindest so leistungsfähig wie ein erwachsenes Gehirn.“ So sind auch die später so dominierenden Fernverbindungen bei den Kindern durchaus bereits angelegt.

Trotzdem bereits Komplexität vorhanden

Nach den Ergebnissen der Forscher existieren schon ausreichend Knoten und Bahnen, um mindestens die so genannte „Small world“ Organisation zu bilden. „Es ist die Idee eines großen Netzwerks, in dem man einen Knoten mit einem anderen über eine relativ geringe Anzahl von Schritten mithilfe von speziellen Schaltstellen verbinden kann“, so Fair. „Diese Schaltstellen besitzen besonders viele Verbindungen zu anderen Knoten, dadurch verkürzen sie die Anzahl der Schritte.“ Es herrscht also durchaus effektive Ordnung.

In ihrer Studie hatten die Wissenschaftler die untere Altergrenze für ihre Teilnehmer auf sieben Jahre begrenzt. Denn in diesem Alter hat das Gehirn bereits rund 95 Prozent der Größe eines Erwachsenen. Als nächstes planen sie jedoch, auch jüngere Kinder zu untersuchen, um herauszufinden, wie sich bei ihnen die Gehirnstruktur ausprägt.

(Washington University, 18.05.2009 – NPO)

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