Neurologie

Kleinhirn ist größer als gedacht

Komplexe Faltung verbirgt eine Fläche von fast 80 Prozent der Großhirnrinde

Kleinhirn
Unser Kleinhirn erscheint nur auf den ersten Blick klein, denn die kompakte Faltung verbirgt seine wahre Größe © janulla/ iStock.com

Versteckter Riese: Unser Kleinhirn hat nur ein Achtel des Volumens unseres Cortex, aber fast 80 Prozent seiner Fläche, wie nun eine Studie enthüllt. Damit ist das Cerebellum weit größer als bislang angenommen. Würde man es komplett entfalten, wäre es einen Meter lang und zehn Zentimeter breit. Gleichzeitig ermöglicht die virtuelle Auffaltung des Kleinhirns erstmals eine präzisere Kartierung seiner Funktionen.

Lange galt unser Kleinhirn nur als Zentrale für die Bewegungssteuerung. Doch inzwischen ist klar, dass dieses rundliche, stark gefurchte Gebilde an der hinteren Schädelbasis auch an nahezu allen höheren Hirnfunktionen beteiligt ist – von der Aufmerksamkeit über Entscheidungsprozesse bis zur Planung von Aktionen. Zudem wertet das Cerebellum ständig Signale unserer Sinnesorgane aus – und dies auf überraschend effektive Weise.

Erste virtuelle Entfaltung der Kleinhirnrinde

Jetzt wartet das Kleinhirn mit einer neuen Überraschung auf: Es ist weit größer als bislang angenommen. Zwar war sein Volumen schon lange bekannt – es macht etwa ein Achtel des Volumens unserer Großhirnrinde aus. Aber die extrem kompakte Faltung seiner dünnen Rinde machte es schwer, die innere Struktur aufzulösen.

„Anders als der menschliche Cortex konnte die Oberfläche des Cerebellums noch nie bis auf die Ebene aller kleinen Falten rekonstruiert werden“, erklären Martin Sereno vom University College London und sein Team. „Weil die einzelnen Falten typischerweise nur wenige Millimeter groß sind und sie dicht aneinander liegen, macht es dies schwer, sie aufzulösen.“

Doch mithilfe eines besonders leistungsstarken Magnetresonanztomografen, der ein Magnetfeld von 9,4 Tesla erzeugt, und einer speziellen Auswertesoftware ist es den Forschern nun gelungen, erstmals die Feinstruktur des Cerebellums zu entschlüsseln.

Ein Meter langer Gewebestreifen

Das überraschende Ergebnis: Wird das Kleinhirn virtuell entfaltet und geglättet, hat seine Rinde eine Fläche von 1.590 Quadratzentimetern. „Das bedeutet, dass die Oberfläche des Cerebellums fast so groß ist wie der gesamte Neocortex“, sage die Forscher. Konkret entspricht die Fläche des Kleinhirns rund 78 Prozent der kortikalen Fläche. Würde man es auffalten, bekäme man einen zehn Zentimeter breiten, aber fast einen Meter lange Streifen Hirngewebe.

Die virtuelle Entfaltung enthüllte zudem, wie komplex die Kleinhirnrinde in sich gewunden und strukturiert ist: Von der Mittellinie des Kleinhirns ausgehende Falten teilen sich mehrfach weiter auf, nur um dann am Rand wieder miteinander zu verschmelzen. Einige kaum gefaltete Lappen des Cerebellums wiederum ragen über die Mittellinie hinaus auf die andere Seite und fügen sich dort in Falten ein.

Wachstum im Laufe der Menschheitsentwicklung

Interessant auch: Das Kleinhirn des Menschen ist im Laufe seiner Evolution deutlich gewachsen und komplexer geworden. Eine vergleichende Entfaltung eines Makakenkleinhirns ergab, dass dessen Fläche nur rund 30 Prozent der Fläche seines Neocortex erreicht – es ist damit vergleichsweise klein. Und auch der Neandertaler könnte noch ein deutlich kleineres Cerebellum besessen haben als der Homo sapiens, wie kürzlich Schädelanalysen nahelegten.

Nach Ansicht von Sereno und seinem Team könnte diese Zunahme an Größe und Komplexität unseres Kleinhirns eng mit der kognitiven Entwicklung unserer Spezies zusammenhängen. „Statt nur Sinnessignale für die Koordination von Bewegungen auszuwerten, haben sich Teile des Cerebellums beim Menschen vergrößert, um bei der Koordination konzeptueller Bewegungen zu helfen – beispielsweise dem schnellen Umplanen einer Handlung oder auch abstrakten Denkvorgängen wie einer mathematischen Formel.“

Virtuelle Entfaltung des Kleinhirns.© San Diego State University

Fragmentierter Homunkulus

Die Entfaltung des Kleinhirns könnte es nun auch erleichtern, seine verschiedenen Funktionen zu bestimmten Arealen zurückzuverfolgen. „Wir haben jetzt eine Karte, die die komplette Oberfläche des Kleinhirns repräsentiert, quasi ihre Städte, Landkreise und Bundesstaaten zeigt“, sagt Sereno. „Damit gibt es nun neue Möglichkeiten für Forscher, den komplexen Flickenteppich der vom Cortex eingehenden Signale im Cerebellum zu lokalisieren.“

Denn ähnlich wie im somatosensorischen Cortex gibt es auch im Kleinhirn eine Art Repräsentation der verschiedenen Sinne und Körperteile. Doch im Gegensatz zum berühmten „Homunkulus“ unserer Großhirnrinde sind die einzelnen Teile beim Cerebellum durcheinandergewürfelt und stark fragmentiert. „Man hat ein Stück der Lippe direkt neben einem Teil der Schulter oder des Gesichts, wie kleine Puzzleteile“, erklärt Sereno.

Die virtuelle Entfaltung könnte nun dabei helfen, herauszufinden, warum dies so ist und ob diese funktionelle Fragmentierung auch für die Areale des Cerebellums gilt, die kognitive Informationen verarbeiten. „Unser ‚kleines Gehirn‘ ist wirklich ein Hans Dampf in allen Gassen“, sagt Sereno. „Das Cerebellum zu kartieren, wird eine spannende Herausforderung der nächsten Dekade werden.“ (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2020; doi: 10.1073/pnas.2002896117)

Quelle: San Diego State University.

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