Biologie

Landwirbeltiere: Artenschwund beschleunigt sich

Allein in den letzten 100 Jahren sind fast 550 Landwirbeltierarten ausgestorben

Nashorn
Das Nördliche Breitmaulnashorn ist schon ausgestorben, das Südliche akut bedroht – so wie 515 weitere Landwirbeltierarten.© Tacio Philip/ iStock.com

Forscher schlagen Alarm: Der Artenschwund unter den Landwirbeltieren beschleunigt sich immer mehr. In den letzten 100 Jahren sind bereits 543 Spezies ausgestorben, weitere 515 stehen aktuell am Rand des „Abgrunds“ – von ihnen gibt es nur noch weniger als 1.000 Exemplare. Diese Tierarten haben seit dem Jahr 1900 mehr als 237.000 ihrer Populationen verloren. Sollten sie komplett verschwinden, könnte dies eine ganze Kaskade weiterer Artenverluste nach sich ziehen, warnen die Wissenschaftler.

Das sechste Massenaussterben ist in vollem Gang und erfasst nahezu alle Bereiche des Lebens. Ob bei den Pflanzen, den Insekten, Vögeln oder Wirbeltieren – weltweit schrumpfen Populationen und Verbreitungsgebiete, Arten sind gefährdet oder schon verloren. Schätzungen zufolge könnten mittlerweile rund eine Million Spezies akut vom Aussterben bedroht sein. Verantwortlich dafür ist der Verlust des Lebensraums durch den Menschen, aber auch Klimawandel oder gezielte Jagd.

„Jedes Mal, wenn eine Art oder Population verschwindet, erodiert dies in gewissem Maße auch die Fähigkeit der Erde, Ökosystemfunktionen aufrechtzuerhalten, denn jede Art ist einzigartig“, erklären Gerardo Ceballos von der Autonomen Nationaluniversität Mexiko und seine Kollegen.

Bestandsaufnahme bei den Landwirbeltieren

Wie akut das Problem ist, haben die Forscher jetzt am Beispiel der rund 29.700 Landwirbeltierarten untersucht. Für ihre Studie ermittelten sie, wie viele Spezies seit 1900 ausgestorben sind und wie viele am Rand des Aussterbens stehen. Als solches definierten sie Arten, von denen es weltweit nur noch weniger als 1.000 Vertreter gibt. Dies entspricht der Individuenzahl, ab der die Internationale Naturschutzunion (IUCN) eine Art in ihrer Roten Liste als „vom Aussterben bedroht“ einstuft.

„Wenn die Zahl der Individuen in einer Population oder Art zu weit absinkt, kann sie zu klein werden, um sich noch erhalten zu können bzw. zu reproduzieren“, erklären die Forscher. Denn in einer so kleinen Population ist die genetische Vielfalt und auch die Widerstandsfähigkeit gegenüber Störungen stark verringert.

543 Arten sind schon verloren, 515 kurz davor

Das Ergebnis: Von den rund 29.700 Landwirbeltierarten sind seit dem Jahr 1900 schon 543 Spezies ausgestorben. „Im normalen Verlauf der Evolution hätte es bis zu 10.000 Jahre gedauert, bis so viele Spezies verschwinden“, sagen Ceballos und seine Kollegen. Unter diesen Arten sind der einst in Australien und Tasmanien beheimatete Beutelwolf, von dem das letzte Exemplar 1936 in einem Zoo starb. Zu ihnen gehören aber auch der einst in Nordamerika verbreitete Elfenbeinspecht und die Maritiusboa.

Verteilung
Geografische Verteilung der Arten mit weniger als 1.000 verbliebenen Individuen.© Ceballos et al. /PNAS

In der Gegenwart gibt es 515 Landwirbeltierarten, denen ein ähnliches Schicksal droht: „515 Spezies haben nur noch weniger als 1.000 verbleibende Individuen – das entspricht 1,7 Prozent der Landwirbeltierarten“, berichten die Forscher. Bei mehr als der Hälfte dieser 515 Arten sei die Zahl der Tiere sogar schon auf unter 250 Exemplare abgesunken. Weitere 388 Landwirbeltierarten haben nur noch weniger als 5000 Exemplare.

Den größten Anteil an den akut bedrohten Spezies haben die Vögel, gefolgt von Amphibien, Säugetieren und Reptilien. Die Mehrheit dieser „Arten am Abgrund“ haben ihren Lebensraum in den tropischen und subtropischen Regionen der Erde. Nur ein Prozent dieser 515 Spezies leben in Europa.

Verlust von 237.000 Populationen

„Die Arten am Rand der Ausrottung haben aber nicht nur drastisch an Individuen verloren, sondern auch an Populationen“, sagen Ceballos und seine Kollegen. Das zeigte sich, als sie exemplarisch die historischen und aktuellen Verbreitungsgebiete von 48 Säugetierarten und 29 Vogelarten unter den 515 Spezies verglichen. Das Ergebnis: „Diese Arten haben seit 1900 95 beziehungsweise 94 Prozent ihrer geografischen Verbreitung verloren“, berichten die Forscher. „Rund 3600 Populationen der untersuchten Säugetierarten und 2930 Populationen der Vogelarten sind verschwunden.“

Rechne man dies für alle 515 akut bedrohten Landwirbeltierarten hoch, dann könnten sie zusammen 237.000 Populationen verloren haben. „Und diese Verluste ereignen sich nicht nur bei obskuren Spezies, die kaum jemanden interessieren. Stattdessen gehören viele Populationen von großen und bekannten Tieren dazu“, betonen die Wissenschaftler. Darunter sind beispielsweise das Sumatra-Nashorn oder die Riesenschildkröten von Espaniola.

Der Artenschwund beschleunigt sich.© Stanford University

„Kaskade des Aussterbens“ droht

Nach Ansicht von Ceballos und seinem Team sind diese Ergebnisse beunruhigend. Denn wie sie erklären, wird es aller Voraussicht nach nicht bei den 515 akut gefährdeten Tierarten bleiben. Wenn diese aussterben, könnte dies weitere, in ihren Ökosystemen lebenden und ebenfalls schon stark dezimierte Spezies ebenfalls mit in den „Abgrund“ reißen. „Aussterben zieht Aussterben nach sich“, charakterisieren die Forscher diese Kaskade des Verschwindens.

„Was wir in den nächsten 20 Jahren tun, um das aktuelle Massenaussterben zu bremsen, könnte daher das Schicksal von Millionen Arten bestimmen“, sagt Ceballos. „Noch ist das möglich, aber das Zeitfenster schließt sich rapide.“

Als Maßnahmen schlagen die Forscher unter anderem vor, ein verbindliches globales Abkommen zu schließen und beispielsweise den Wildtierhandel generell zu verbieten. Der Schutz bedrohter Arten sollte zudem auch auf nationaler Ebene eine höhere Priorität erhalten. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2020; doi: 10.1073/pnas.1922686117)

Quelle: Stanford University

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