Biologie

Mensch und Seeanemone ähnlicher als gedacht

Embryonalentwicklung von Nesseltier und Mensch gleichen sich stark

Nach der Transplantation der Urmundlippe bildet die Seeanemone eine zweite Körperachse © Ulrich Technau

Seeanemonen haben sich seit ihrer Abspaltung von der Entwicklungslinie unserer Vorfahren vor 700 Millionen Jahren kaum verändert. Damit sind sie dem Menschen ähnlicher als Insekten, obwohl diese erst vor 500 Millionen Jahren eine eigene Entwicklung durchgemacht haben. Diese überraschenden Forschungsergebnisse stellen Wiener Wissenschaftler jetzt in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins „Current Biology“ vor.

Forscher gingen bisher weltweit davon aus, dass das Genom des Menschen weitaus komplexer aufgebaut ist und auch kompliziertere Vorgänge steuert als das von Nesseltieren, wie Seeanemonen, Korallen oder Quallen. Schließlich erfolgte die Abspaltung von der gemeinsamen Entwicklungslinie vor 700 Millionen Jahren. Diese Theorie widerlegte nun Ulrich Technau, Professor am Department für Theoretische Biologie der Universität Wien. Er konnte nachweisen, dass grundlegende Mechanismen der Embryonalentwicklung von Mensch und Nesseltier viel ähnlicher sind als bisher angenommen. Voraussetzung dazu war die komplette Entschlüsselung des Genoms der Seeanemone sowie ein Laborexperiment, welches zeigt, dass auch das frühe Entwicklungsstadium der Seeanemone von einem Organisator gesteuert wird – ein Vorgang, der bisher nur bei Wirbeltieren nachgewiesen werden konnte.

Genom-Entschlüsselung der Seeanemone

Die zwei Köperachsen aus verschiedenen Perspektiven unter dem Raster-Elektronenmikroskop. © Ulrich Technau

„Die Seeanemone war der erste Organismus, dessen Genom vollständig decodiert wurde“, so Technau, einer der Initiatoren der Sequenzierung, die im Joint Genome Institute in Walnut Creek (USA) unter der Leitung von Dan Rokshar vorgenommen wurde. In dem daraufhin verfassten Paper präsentierten Technau und seine Co-Autoren die überraschenden ersten Ergebnisse der Entschlüsselung in „Science“: „Es ist unglaublich, wie ähnlich das Genom der Seeanemone dem des Menschen ist. Das Genrepertoire ist uns näher als das der Fliege, die sich ‚erst‘ vor rund 500 Millionen Jahren von unserer Entwicklungslinie abgespalten hat.“

Experiment während der embryonalen Weichenstellung

Die jüngsten experimentellen Ergebnisse von Technaus Team zeigen nun, dass bisherige Entwicklungslinien der Biologie neu überdacht werden müssen. Der Forscher und seine Mitarbeiterin Yulia Kraus wiederholten „das wohl berühmteste Experiment der Entwicklungsbiologie“ aus dem Jahr 1924. Ausgangspunkt dafür war die Gastrulation, eines der wichtigsten Stadien während der Entwicklung eines Organismus. Dabei bildet der Zellhaufen einen hohlen Ball, der sich auf einer Seite nach innen stülpt und damit eine Öffnung bildet. Dieser Urmund wird bei den Wirbeltieren in weiterer Folge der Anus. Wenn die Einstülpung daraufhin durchbricht, entsteht am anderen Ende der Mund. Bei diesem wichtigen Vorgang wird das Koordinatensystem des Körpers festgelegt, die Körperachsen wie auch der Standort bestimmter Zelltypen.

In dem berühmten Experiment von 1924 schnitt die damalige Dissertantin von Hans Spemann (er erhielt dafür 1935 den Nobelpreis), Hilde Mangold, ein Stück oberhalb der Einstülpung – dem so genannten Urmund – des Zellballs einer Amphibie heraus, die Urmundlippe. Dieses Stück Gewebe transplantierte sie an das andere Ende des Zellballs, dort, wo sich normalerweise später die Bauchseite herausbildet. Und das faszinierende Ergebnis war: Es entstand eine zweite Körperachse mitsamt Kopfansatz. „Das war der Beweis, dass dieses Stück Gewebe die lange vermutete Organisatorfunktion der Gastrulation inne hat. Es induziert durch Moleküle mit Signalfunktion das Auswachsen der Körperachsen und organisiert die Zelltypisierung“, erklärt Technau: „Bis dato dachte man, dass dieser hochkomplexe Vorgang nur bei Wirbeltieren vorkommt.“

Kraus und Technau führten im Frühling 2007 Hilde Mangolds‘ Experiment erneut durch, dieses Mal mit Zellen einer Seeanemone. Der Entwicklungsbiologe stellte fest, dass auch die Seeanemone das Entwicklungsstadium der Gastrulation durchmacht und dass dieser Organismus an genau derselben Stelle wie Wirbeltiere über einen Organisator verfügt. „Wie in Mangolds Experiment entwickelte sich nach der Transplantation der oberen Urlippe auch bei der Seeanemone eine zweite Körperachse heraus. Das beweist: Das Prinzip ist dasselbe“, so Technau.

Forschungsergebnis gibt für die Evolutionstheorie neue Fragen auf

Durch dieses Ergebnis wird die gesamte Sichtweise auf die biologische Entwicklungslinie hin verändert: „Dieses Prinzip ist also nicht von den unmittelbaren Vorfahren der Menschen und anderen Wirbeltieren erfunden worden. Es ist viel älter. Verwirrend war nur, dass Insekten, die sich später als Nesseltiere von der Entwicklungslinie abgespalten haben, das Stadium der Gastrulation nicht durchmachen. Insekten haben es also verloren oder verändert“, so Technau.

Eine nahe liegende Forschungsfrage lautet deshalb: Warum ist der Mensch, trotz eines ähnlichen Genoms zur Seeanemone, dennoch viel komplexer aufgebaut? Technau hat eine Vermutung, der er in weiteren Forschungen auf den Grund gehen wird: „Bei der Beantwortung dieser Frage wird uns die sequenzierte DNA der Seeanemone helfen. So können wir Gen für Gen vergleichen. Und in unterschiedlichen Kontexten studieren. Ich vermute, dass die Antwort nicht in den einzelnen Genen liegt, sondern in den Netzwerken, die sie bilden. Wir sind gerade dabei, diese Netzwerke näher zu erforschen. Und mit dieser komplexen Aufgabe bin ich hier im neuen Zentrum für organismische Systembiologie in der Fakultät für Lebenswissenschaften am richtigen Platz.“

(Universität Wien, 23.10.2007 – DLO)

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