Das Wandern ist der Fliege Lust: Eine der größten Tierwanderungen des Planeten führt über die Pyrenäen, wie Biologen herausgefunden haben. Demnach überqueren jedes Jahr mehrere Milliarden Insekten den Gebirgszug, um von Frankreich nach Spanien zu gelangen. Allein an einem einzigen Pyrenäen-Pass konnte das Team 17 Millionen Insekten pro Wandersaison zählen. Eine Insektengruppe stach bei dieser Volkszählung besonders heraus.
Bei Tierwanderungen denken die meisten wahrscheinlich an bildstarke Spektakel wie die rund zwei Millionen Gnus, Zebras und Antilopen, die alljährlich die Serengeti durchziehen und sich dabei allerlei Gefahren wie hungrigen Löwen und Krokodilen stellen müssen. Doch auf unserem Planeten spielen sich noch deutlich größere Wanderungen ab, auch wenn die Teilnehmer – fliegende Insekten – viel kleiner sind.
Höhenflug über die Pyrenäen
Eine solche Insektenwanderung führt Fliegen, Schmetterlinge und Co. zum Beispiel über eines der höchsten Gebirge Europas: die Pyrenäen. Erstmals von Wissenschaftlern beobachtet wurde diese beeindruckende Reise in den 1950er Jahren und zwar am 2.270 Meter hoch gelegenen Bujaruelo-Pass, einem 30 Meter schmalen Spalt zwischen zwei Gipfeln. „Sie wurden Zeuge einer bemerkenswerten Anzahl von Hainschwebfliegen, die durch die Berge zogen – der erste aufgezeichnete Fall von Fliegenmigration in Europa“, erklärt Will Hawkes von der University of Exeter.
Um zu sehen, ob diese Migration auch nach über 70 Jahren noch stattfindet und wie viele Insekten genau daran teilnehmen, gingen Hawkes und sein Team vier Herbste hintereinander zu demselben Pass von damals zurück und führten unter den fliegenden Wanderern eine Volkszählung durch. Größere Insekten wie Schmetterlinge zählten sie mitunter mit dem bloßen Auge, doch spätestens bei Fliegen und anderen Winzlingen brauchte es dafür eine spezielle Videokamera. Einige der migrierenden Tiere fingen die Forschenden außerdem gezielt ein, um ihre Spezies zu bestimmen.
Wenn Fliegen hinter Fliegen fliegen
Das Ergebnis: Jedes Jahr überqueren den Bujaruelo-Pass mehr als 17 Millionen Insekten, wie die Zählungen ergeben haben. An manchen Tagen entsprach das über 3.000 Fliegen pro Meter und Minute. Auf die gesamten Pyrenäen hochgerechnet könnten die Teilnehmerzahlen jährlich sogar in den zweistelligen Milliardenbereich gehen, schätzen Hawkes und seine Kollegen. „So viele Insekten zu sehen, die sich alle gleichzeitig zielstrebig in dieselbe Richtung bewegen, ist wirklich eines der großen Wunder der Natur“, sagt Seniorautor Karl Wotton, ebenfalls von der University of Exeter.
„Es war magisch. Wenn ich mein Netz durch die scheinbar leere Luft schwang, war es voll mit den kleinsten Fliegen, die alle auf dieser unglaublich großen Wanderung unterwegs waren“, ergänzt Hawkes. Fliegen sind dabei ein gutes Stichwort, denn 90 Prozent aller sechsbeinigen Migranten ließen sich dieser Insektengruppe zuordnen. Auf bekannte Wanderinsekten wie Schmetterlinge und Libellen entfielen dagegen nicht einmal zwei Prozent.
Insgesamt konnte das Team unter den fliegenden Wanderern 20 Insektenfamilien aus fünf Ordnungen identifizieren, wobei einige uns auch aus dem eigenen Garten bekannt sein dürften, darunter Kohlweißlinge (Pieris rapae), Augenfliegen (Musca autumnalis) und winzige, kaum drei Millimeter lange Grasfliegen (Chloropidae).
Von Nord nach Süd
Doch woher kommen all diese Insekten und wo wollen sie hin? Die tierischen Migranten beginnen ihre Reise weiter nördlich in Europa, unter anderem in Großbritannien, wie die Forschenden erklären. Von dort brechen sie nach Frankreich auf, überqueren die Pyrenäen und gelangen so mindestens bis nach Spanien, manche wahrscheinlich sogar bis nach Marokko.
Während einige Arten die wärmeren Gefilde zur Überwinterung nutzen, bringen andere dort neue Generationen zur Welt. „Man geht davon aus, dass sich wandernde Schwebfliegen vor Beginn ihrer Herbstwanderung paaren, Spermien speichern und während ihrer langen Reise eine Diapause einlegen. Dies macht die weiblichen Fliegen zum Schlüssel für den Fortbestand ihrer Populationen in niedrigeren Breitengraden“, erklären Hawkes und seine Kollegen.
Geflügelte Gen- und Nährstoffspender
Doch die große Reise ist nicht nur für die Insekten selbst wichtig, sondern auch für die Umwelt. Denn rund 90 Prozent aller gezählten Insekten gehören zu den Bestäubern und transportieren auf ihren Wanderungen pflanzliches Genmaterial durch halb Europa. Damit bereichern sie den Genpool südlicher Pflanzenpopulationen und verbessern so deren Resistenz.
Darüber hinaus stellen die wandernden Insekten auch eine wichtige Nährstoffquelle dar. Wie Hawkes und seine Kollegen ermittelt haben, bewegen sich mit den fliegenden Migranten jährlich rund 140 Kilogramm Biomasse durch den Bujaruelo-Pass. Das entspricht 14 Kilogramm Stickstoff und 1,4 Kilogramm Phosphor, die nach dem Tod der fliegenden Wanderer ins Erdreich übergehen.
In Zukunft könnten die Zahlen der wandernden Insekten allerdings durch Klimakrise und Lebensraumverlust erheblich zurückgehen. Wahrscheinlich sind sie das sogar schon in den vergangenen 70 Jahren. Doch Hawkes ist zuversichtlich: „Indem wir das Wissen über diese bemerkenswerten Migranten verbreiten, können wir das Interesse und die Entschlossenheit zum Schutz ihrer Lebensräume fördern. Insekten sind widerstandsfähig und können sich schnell wieder erholen. Gemeinsam können wir diese bemerkenswertesten Migranten von allen schützen.“
(Proceedings of the Royal Society B Biological Sciences, 2024; doi: 10.1098/rspb.2023.2831)
Quelle: University of Exeter